In der Cafeteria des Kölner Ludwig-Museums ist der Weltgeist zu Gast. Der ist immer leicht zu erkennen, weil er nur Sushi mag. Serviert von dicken Köchen mit Halbmetermützen. Zähe Reisklumpen mit Fischzeug, eingeschnürt in unzerkaubare Algenfolie, ein bisschen wie rohe Auberginen. Das mag der Weltgeist. Hat es jahrelang geübt, im Rhythmus zur Musik zu kauen, das kaut sich fast von alleine, wie Fahrradfahren im Dunkeln. Mein Gott, wann ist er das letzte Mal Fahrrad gefahren? Das war mit Paul Spiegel im Mecklenburgischen, neblig war’s, vorne ein Altfrauenfahrradkorb mit vorgeschmierten Stullen und drei Kaffeethermokannen. Irgendwann. Lange her. Daran denkt er, wenn er kaut und wenn der Rhythmus stimmt. Seit Jahren legt ja immer jemand auf zum Essen. Wahrscheinlich, damit man merkt, dass man nicht zu Hause ist, dass man auf fremde Kosten frisst. Das könnt man glatt vergessen, wenn da nicht immer irgendein Rhythmus wäre. Seit Jahren wird alles serviert von Servierdamen. Wie er das hasst, in die Serviette eingewickeltes Besteck. Wie Leichen, Besteckleichen im Totentuch. Das Auswickeln gleicht einer Exhumierung und man hofft jedes Mal, dass nicht schon alles weggefault ist . Gibt es das überhaupt, Totentücher? Liegen die Leute nicht einfach so im Sarg? Oder kommt da ein Sack drum, ein Totensack? Man weiß ja so wenig. Seit Jahren bekommt er Sushi, weil er das so mag. Er weiß nicht, ob er das mag. Seit Jahren räumen die Abräumer ab und stehen die Türsteher tür. Haben die sonst nichts zu tun? Warum gehen die nicht zum Fernsehen? Das dauert alles fünf Sekunden bis hierher, dann entdeckt ihn jemand. Meistens die falschen, meistens die Gastgeber. Da muss er freundlich bestimmt sein und sich schnell verabschieden. In der Jackett-Tasche liegen schon ein paar Sushi-Brocken für den Weg. Jetzt rücken sie an, die netten, allzu netten Herrn von BB Promotion, das sein 25jähriges Bestehen begeht und deshalb gleich Philharmonie plus Museum angemietet hat. Da waren die netten Herren also ungefähr sechs Jahre alt, als sie ihre Firma gegründet haben. Hosenscheißer, denkt der Weltgeist. Alles Hosenscheißer. Ein ganzes Rudel Promotionisten wirbelt herum, er scheucht sie vor sich her durch den Raum. Manchmal lassen sie einen ohne Haare durch, der muss wichtig sein. Als der die Hand hinstreckt und Guten Abend sagt, da unterbricht er ihn, indem er schnell seinen Namen einschiebt, als würde er sich vorstellen. Kommt dem Haarlosen zuvor. Weltgeist, sagt er also in trockenem Tonfall, als wüsste der andere nicht genau Bescheid, mit wem er es zu tun hat. Der Haarlose lächelt blöd, nennt kleinlaut seinen eigenen Namen. Die lächeln immer blöd, den Weltgeist stört das nicht. Die muss es auch geben, sagt er immer. Aber die Vorstellungsnummer ist wirklich zu geil. Der Haarlose beginnt zu betteln, die ganze Meute bettelt plötzlich. Wollen ein Foto. Würden Sie uns den Gefallen tun, sagen sie, könnten wir eben, es dauert nicht lange. Kinders, sagt er, das machen wir. Er sieht sich um und drängt plötzlich Richtung Türsteher. Draußen Kinders, hier drin ist es viel zu eng. Die Kinders laufen ihm hinterher wie im Kinderkreuzzug. Raus auf den Heinrich-Böll-Platz, der mit der Philharmonie-Fehlkonstruktion. Wenn jemand drüber läuft, bollert es unten im Saal. Deshalb wird er bei Konzerten immer abgesperrt, ausgerechnet Böll, letztens sind die Studenten draufgestürmt und herumgesprungen. Beim DuMont-Jubiläum war das, da war der Weltgeist auch da und Masur sollte dirigieren. Und dann dieses hirnlose Gebumse von oben. Da gehen sie jetzt rüber, er geht da rüber, die anderen hinterher. Ja, mit Dom, denken die, das wird schön. Aber er stellt sich nicht vor den Dom, er hat irgendetwas vor. Geht bis an die äußerste Kante des Platzes, dreht sich um und steht vor dem Rheinbrückenpanorama. Hier machen wir das. Da kann keiner was sagen, sie sagen auch nichts, ducken sich um ihn herum und die Photographen photographieren, was denn sonst. Sein Gesicht bewegt sich nicht, er kann das anhalten, das ist nicht schwer für ihn. Alle gucken auf sein Gesicht, sie bemerken gar nicht, was er mit ihnen macht. Auf dem Photo erst werden sie sehen, dass sie ein Pferd geknipst haben. Und einen Hohenzollern, ein grün oxydiertes Reiterstandbild. Sie werden sich dabei nichts denken wahrscheinlich. Werden nicht einmal sehen, dass es Wilhelm II. ist, der hinter der Gruppe aufragt, der sie niederzureiten droht. Wilhelm II., letzter Kaiser der Deutschen. Der jahrelang Holz gehackt hat, nachdem er nicht mehr Kaiser sein durfte. Einen ganzen Wald kurz und klein gehackt, von morgens bis abends. Hitler hatte ihn noch besucht, aber das war ein mickriger Wicht, für den wollte er nicht wieder ran. Dann lieber Holz hacken im Exil. Und später auf dem Heinrich-Böll-Platz stehen und im Takt auf den Philharmoniedeckel trampeln, wenn Wagner gespielt wird. Alles Wichte, alles Hosenscheißer. Eure Wälder habt ihr nicht verdient und euren Kaiser auch nicht. Der Weltgeist hat irgendwie die Verfolger abgeschüttelt, überquert den Platz, alleine, beinahe einsam. Geht an jemandem vorbei, der ihn anblickt, This Charming Man, er will kurz nicken, nickt aber nicht, weil da was nicht stimmt im Blick. Er sieht zurück, einen Tick zu lang, greift dann zu den Sushis in seiner Jackett-Tasche und geht mit sicheren Schritten – rechtes Bein, linkes Bein, rechtes Bein – auf den Dom zu. Klong, klong, klong. Grüßt noch kurz zu den schimmelnden Gebeinen der Drei Könige herüber, Nacht Kinders, besteigt am Hauptbahnhof ein Taxi, in dem es nach Vanillebaum stinkt, und löst sich auf. Dann geschieht etwas sehr Schlimmes an diesem Freitag, 12. Juli 2002, aber das hat nichts mit ihm zu tun.
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