Letzte Woche verbrachte ich ein paar Tage in London bei meiner Exmitbewohnerin B., eine von vielen, die nach dem Studium das Weite gesucht haben, ein weiterer Teil eines sich atomisierenden, vereinzelnden Bekanntenkreises. Sie sind in die Metropolen gezogen, wohnen in Stadtbezirken, die gerade im Kommen sind, haben schlechtbezahlte aber CV-verbessernde Jobs, und keiner von ihnen ist richtig glücklich.
B. war vor kurzem auch in einen der kommendsten Bezirke Londons gezogen und hatte mir berichtet, dass ganz in ihrer Nähe auch Pulp-Sänger Jarvis Cocker wohnen solle, man munkele auch, er ginge oft in den Pub bei ihr ums Eck. Wer das nun eigentlich munkelte, vergaß ich zu fragen.
Zu nachtschlafender Zeit verließ ich also das kontinental frostige Wien und landete im maritim milden London. B's Wohngegend war eigentlich eine Art Leere, in die andere Stadtviertel hineinlappten. Nach Kriminalität aussehende estates, plötzlich abbrechende Ziegelhausreihen, am Horizont drohten stampfend die Büromoloche. Dazwischen Minigäßchen voller alter Lagerhäuser mit Kreativbüros obendrin und geräumigen, in Rot- und Brauntönen gehaltenen Clubs untendrin, in die die Kreativleute gehen. Also genau wie in jeder größeren europäischen Stadt.
Und dazwischen ein ganz normaler Pub. Jarvis Cockers Pub? B. bestätigte es. Ich spähte durchs Fenster, war aber kein Cocker drin. In der Straße daneben sollte er wohnen. Sie sah aus wie die Illustration in meinem Englisch-Buch aus der 10.Klasse, unter der "Elend der Arbeiterklasse" stand. Und das da sei sein Jeep. Sagte man.
Nun gut, es war früh am Vormittag, wahrscheinlich schlief er noch seinen Künstlerviertelkünstlerschlaf.
Abends auf dem Heimweg dann wieder der Blick: Nur zwei, drei Standard-Pub-Gäste drin, kein Popstar. Gab es vielleicht ein Hinterzimmer? Reingehen und Nachschauen wäre doch zu albern, außerdem finde ich Pulp ja auch nur "ganz gut".
Anderntags besuchten wir das Büro des Reichstagsüberkupplers Sir Norman Foster, wo ein weiterer versprengter Bekannter arbeitet. Am Eingang musste man zwei finsteren Bodyguard-Portiers Name und Grund des Besuches angeben und bekam ein Plastiknamensschild, das an meiner Jacke nicht hielt. Ich klemmte es dann, unterwürfig fummelnd, in den Jackentaschenreißverschluß und kam mir sehr dumm vor. Im Innern: Ein Marmorgulag, eine Galeere von einem Büro, ganz wie befürchtet, mir wurde kalt. In einer staubigen Ecke stand ein häßliches Modell, das eine halbe Million Mark gekostet hatte. Ehrfurcht, Zerstörungslust und Gleichgültigkeit rangen in mir. Gleichgültigkeit gewann, wie immer.
Wir schlichen durch das kathedralenartige Büro, eine Welt von Dezenz und Perfektion, ich kam mir störend vor mit meiner Plastiktüte voller Second-Hand-Bücher.
Und da,am Ende der Halle, strahle Sein Hinterkopf - Sir Norman war zuhause. Er trug tatsächlich einen schwarzen Rollkragenpulli und redete scharfkantig gestikulierend auf einen client ein. Mein Bekannter bugsierte uns diskret in ein Treppenhaus, ehe wir Seinen Gesichtskreis erreichten.
Abends dann in einer der Kreativbars: vielleicht war Jarvis Cocker nicht in Pub- sondern in Club-Stimmung? Leider: in keinem der Sixities-Sessel war er drin. Es drohte ein Londonbesuch ohne den Hauch von Popkultur zu werden.
Der letzte Tag. B. mußte arbeiten und ich schleifte meinen Rucksack voller Bücher und CDs zur U-Bahn. Noch ein letzter Blick in die Arbeiter-Snack-Bar: Cocker, Kontakt mit seinen sozialen Wurzeln suchend? Nein.
Im Supermarkt: Cocker beim Teekauf? Nein.
Im Pub? Niemand. Gut. Auch egal.
Ich erreichte die Underground und stellte mich in die Ticketschlange (ein Satz fürs Englischbuch). Dachte daran, daß ich nicht wußte, wie früh man sicherheitscheckbedingt am Flughafen sein mußte. Schaute nach vorne. Da stand, zwei Personen weiter in der Ticketschlange vor mir, DER EINE VON SAINT ETIENNE!
Leider weiß ich nicht, welcher von beiden, weil auf den Saint-Etienne-Platten nie die Namen den Fotos zugeordnet sind. Wahrscheinlich, weil die beiden männlichen Bandmitglieder einfach zu unscheinbar sind. Sie sehen selbst auf den gestelltesten Fotos völlig schlurfig, normal und unpopstarlike aus. Deshalb erkannte ich ihn auch sofort, weil er in echt genauso aussah. Er trug irgendeine dunkelblaue urbane Jacke und eine hellblaue urbane Umhängetasche. Und dieser völlig normale Mensch schafft diese glimmernde, schimmernde, elegante 100%-POP-Musik.
Kurz erwog ich noch, ihn anzusprechen und ihm für die Musik seiner Band zu danken, ließ es dann aber bleiben und verharrte in sonnigem Glücksgefühl. Er stieg dann in denselben U-Bahn-Wagen wie ich und las ein Buch. Zwei Stationen später merkte ich, daß ich in die falsche Richtung gefahren war.
Als ich in Wien ankam, hatte es geschneit, und der Busfahrer grunzte auf mein "Einmal zum Südbahnhof, bitte" zur Antwort: "Fahr' ma ned!"
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