Ein diffuses Gefühl hat sich mit Schlag 30 Jahren im Kopf aufgebaut, es gäbe die Gegenspieler Natur und Kultur, und man müsse irgendwie für Ausgleich sorgen. Vielleicht entspringt es der Einbildung, vielleicht der Erkenntnis, vielleicht der eingebildeten Erkenntnis, dass letztlich doch alles Yin und Yang ist. Zur Erreichung dieses ewigen Gleichgewichts trotz heftiger Internetnutzung liegt die Erfahrung der Natur nahe. Oder viel mehr die Erwanderung der Natur in ihrer ursprünglichsten von Berlin aus erreichbaren, also brandenburgischen Form. Die Frau interessiert sich von Geburt an für Tiere, aber war in Botanik nicht da, deshalb bedeutet Natur erleben für sie eigentlich Fauna besichtigen. Ich dagegen interessiere mich in erster Linie für Luft, heiße zum arbeiten, kühle zum atmen, und es gibt Luft im Wald wie Sand am Meer. Luft, ich liebe Luft, manchmal möchte ich Luft essen vor Freude an der Luft.
Wir laufen durch die brandenburgische Natur, 50 südlich von Berlin, kurz vor dem Spreewald, rund um die Heideseen. 5,5 Kilometer ist der Rundwanderweg lang, rund um die Heideseen. Einer davon heisst Schwanensee, Humor der Sorte Brandenburg, man weiss nicht, ob es Absicht ist oder Stulleness. Am Wanderweg stehen Schilder.
Erstes Schild:
Köthen –3 Kilometer.
Groß Wasserburg – 2 Kilometer.
Rundwanderweg –5,5 Kilometer.
Zweites Schild:
Köthen –4 Kilometer.
Groß Wasserburg – 3 Kilometer.
Rundwanderweg –5,5 Kilometer.
Drittes Schild:
Köthen –2 Kilometer.
Groß Wasserburg –6 Kilometer.
Rundwanderweg –5,5 Kilometer.
Rundwanderweg, der Godot unter den Orten.
Ein durchdringender Schrei ertönt, der Schwarzspecht ruft seine Schwarzspechtkollegen, ich mache ein Foto, Schwarzspechtsilhouette im Gegenlicht, der Schärfepunkt liegt kaum zehn Meter vor dem Vogel im Geäst. Gibt bessere Fotos, schlechtere selten. Ein blauschillernder Blitz fliegt von rechts nach links durch die Luft. Der "Diamant der Lüfte", wie ein auf Youtube in Ausschnitten vorhandener Film den Eisvogel pathossatt nennt. Eisvögel sind selten, wir warten zu Dokumentationszwecken, aber das Schwein kommt nicht zurück.
Man muss auch resignieren können. Zurück auf dem Weg zum Wagen. An den letzten Ausläufern des Pichersees beginnen die Villen mit rasiertem Rasen zum See hin. Wunderschön, auf eine Art. Nicht auf unsere Art, aber auf irgendeine Art doch auch schon.
Als der Rundwanderweg weg strebt vom See, dort, wo er sich wieder zum Ort hinwenden will, wo er vom selten belaufenen Waldweg zum selten befahrenen Forstweg wird, genau dort mäht Mario Barth den Rasen vor einer Villa. Eigentlich ist es ein Ferienhäuschen und keine Villa und eigentlich ist auch nicht ganz klar, ob Mario Barth gemäht hat oder der kleine Mann neben ihm, denn der Rasenmäher ist jetzt still und das Gerät steht zwischen ihnen, unschlüssig, zu wem es gehört. Aber Mario Barth erklärt jetzt etwas, auch im echten Leben hat er eine etwas zu laute Stimme, eine viel zu laute Stimme vielleicht sogar.
"Es ist so leicht, auf Mario Barth herumzuhacken, dabei hat er ein ziemlich gutes Timing, ein wirklich gutes Timing", sage ich. "Aha", sagt die Frau. "Man sollte ja auch nicht neidisch sein auf jemanden, der immerhin Mehrzweckhallen und Stadien füllt", sage ich. "Hmhm", sagt die Frau. "Nur sein Sexismus ist natürlich unterallerkajütig, und meinen Humor trifft er nicht", sage ich. "Ja nun", sagt die Frau. Dann ist Mario Barth außer Hörweite, die Luft ist wieder rein und das ewige Gleichgewicht wieder hergestellt. Auf eine Art.
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