Sommer auf Sylt – zwei kleine Dachzimmerchen am Rantumer Watt, vom Butzenfenster aus der Blick auf die am Abend öde Dorfstraße.
In der Ferienwohnung ist Rauchen unerwünscht. Man qualmt also vor dem Zubettgehen im Rahmen hockend sein Zigarettchen, schlürft den billigen Minimarktmerlot aus Ikeagläsern, um dem verregneten Strandtag noch ein einigermaßen sonniges Ende zu bescheren.
Am letzten Abend – eher eisengraue als blaue Stunde – draußen nieselt es wie gehabt – fällt uns beim Fensterschmök ein junger Mann auf dem verlassenen Fußweg auf. Ein Spaziergänger im Regen, gab es nicht mal einen Film mit ähnlichem Namen?
Goldlange Locken wippen mittelgescheitelt an einem blassem Kindergesicht, dazu trägt der Jüngling volle Lippen, sehr rot, puttengleich, die entspannt vor sich hinlächeln. Er schlendert auf dem Fußweg, ganz langsam und gelöst Richtung Sparmarkt. Sicher hat der Krämer noch nicht abgesperrt, normalerweise läßt er seine altertümliche Registrierkasse erst nach 22:00 im Stich.
Der blonde Mann auf dem Fußweg trägt weiße Chucks und zur weißen Schlagjeans ein weißes Rüschenhemd. Tatsächlich, Rüschen! Wer trägt sowas heute noch? Ein Teenager, der die 70er verehrt? Oder ein Physiotherapeut? Ein Engel?
Unsinn, der Gedanke mit dem Engel - doch dieser junge Mann wirkt so unwirklich, so schwebend, wie eine Lichtgestalt in der nieseligen Rantumer Einöde. Er schlenkert beim Gehen leise mit den Armen, blickt ab und an zum Himmel, bleibt kurz stehen. Schaut sich um.
Etwas zieht meinen Blick auf sich. Diese Schuhe! Auffällig groß sind sie, jedenfalls für einen doch eher kleinen Mann. Plack, plack, plack – machen sie auf dem nassen Holperpflaster. Ein Senkel hinkt hinterher, regelmäßig muss er ein Pfützenbad ertragen, schleift zwischenzeitlich auf den groben Gehwegplatten.
Ja, wir kennen diesen Mann. Er heißt Kelly, wir haben ihn schon öfters im Fernsehen gesehen. Angelo Kelly. Jüngstes Kind einer irischen Großfamilie, er hat viele Geschwister. Acht oder neun oder noch mehr.
So ganz allein wirkt er verloren. Wo sind Joey, Maite, Paddy, Patricia? Wo ist John, und Cathy und all die anderen?
Wir können aufatmen: ganz allein ist er nicht an diesem Abend. Angelo ist in Begleitung. Am linken Handgelenk hängt etwas. Bei der zunehmenden Dunkelheit müssen wir schon ganz genau hinsehen: es handelt sich um ein Stromkabel, eine Verlängerungsschnur genau gesagt. Sicher an die vier Meter lang.
Am anderen Ende des Kabels, dort wo normalerweise die Steckdose ankert, befindet sich ein Hund. Ebenso blond, ebenso gelockt wie Angelo ist er.
Dabei kurz und gedrungen wie ein Waschbär. Ihm wickelt sich das Kabel um den Hals, allerdings locker und das Leben des Tieres nicht gefährdend. Der Hund, wahrscheinlich ein Pudel oder ein Dackel, ich kenne mich nicht aus mit Hunden, zuckelt gelassen neben Angelo her, überholt schon einmal, zieht am Kabel, läßt sich bremsen, wartet, schließt dann wieder zu Herrchen auf.
Harmonisch, die beiden, ein gutes Team, auch ohne Strom. Sie strahlen Einverständnis und Frieden aus.
Das Paar verschwindet hinter der Kurve. Dort, wo der Weg dünauf zum Strand beginnt. Planen die beiden einen längeren Strandspaziergang?
Gehen sie heim in eine ähnlich piefige Ferienwohnung wie unsere hier?
Hat Angelo kein Geld für eine Hundeleine? Oder ist das Tier gerade zugelaufen und der Zooladen schon geschlossen?
Wir werden es nicht erfahren.
Und wenn schon.
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