Mein Großvater las die Russen am Küchentisch. Wenn er mit einem Roman fertig war, ging er ins Wohnzimmer, stellte den einen Russen zurück in den Schrank und holte einen anderen Russen raus. Er war ein Muster an Beständigkeit und Bescheidenheit. Er hätte nie gesagt "Ich lese die Russen", genau genommen war es sogar so, dass meine Mutter und ich uns über ihn lustig machten. Wir hatten damals beide keine Ahnung von Literatur und hielten Gorki und Dostojevski für eine Art Soldatenschriftsteller und "Schuld und Sühne" für Militariakitsch im Goldband.
Er war kein Mann von vielen Worten. Manchmal erzählte er vom Krieg, seiner Zeit bei der Wehrmacht, seiner russischen Kriegsgefangenschaft und wie es kam, dass ein Granatsplitter seinen linken Unterschenkel traf. Er schaute dabei verloren auf den Boden und nannte die Nazis, Hitler und die SS Schwerverbrecher. Ich war etwa 8 Jahre alt, als ich ihn fragt, ob er etwas von der Judenverfolgung mitbekommen hatte. Aber ja, Steffi, aber ja, und wenn wir damals etwas gesagt hätten, wären wir gleich mit in den Zug gesteckt worden. Das waren Schwerverbrecher.
Als ich bei ihm und meiner Oma wohnte, spielte ich mit meinen Freundinnen im Garten. Wir ließen Drachen steigen und meistens dauerte es nicht lange, bis der Drachen im Kirschbaum festhing. Mein Opa holte dann die große Leiter, kletterte sie hoch, befreite den Drachen aus seinen Fängen und dann ging das Spiel von vorne los. Irgendwann gab er uns Geld für ein Eis. Erst Jahre später bin ich dahinter gekommen, dass er uns ein Eis ausgab, um der Drachenbefreiung ein Ende zu setzen.
Mein Opa lachte gerne. Er hielt sich die Hand vor den Mund, während ihm die Tränen liefen. Manchmal entschuldigte er sich, manchmal musste er husten. Er war Raucher. Wenn Herbert Wehner im Fernsehen war, dann war ein solcher Moment. Er mochte seine Beschimpfungsarien. Einmal war er mit meinem Bruder und meinem anderen Opa im Müngersdorfer Stadion. Es war im Winter. Meine Omas haben die drei mit Decken, Thermoskannen und Proviant ausgestattet, als würden sie auf eine Wanderung gehen. Als sie zurückkehrten hatte Köln verloren und mein Bruder war geknickt. Noch Jahre später lachte mein Opa über die Sprüche der anderen im Stadion. Spatzenfresser haben sie zum Schiedsrichter gesagt. Entschuldigung. Mein Opa hielt zu keiner Mannschaft im Besonderen, da es keine Schlesiermannschaft gab.
Von einem Fronturlaub erzählte er oft. Als er mit seiner Truppe in einem Stadion war und auf eine Rede wartete, stand er am Korridor. Er wurde angerempelt. Steffi, hier an der linken Schulter hat der Führer mich angerempelt, so, und dabei griff er sich an die Schulter. Husten. Mein Opa hielt sich die Hand vor den Mund und meine Oma sagte dann geh weiter.
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