Lange habe ich die Begegnung nicht öffentlich gemacht, und dafür hatte ich wirklich gute Gründe. Aber nun ist ja alles verjährt: Horst Buchholz ist seit März 2003 tot. Und wenn ich es mir genau überlege, traf ich ihn wohl bei einer seiner letzten ICE-Fahrten.
Es war im Dezember 2002 zwischen Berlin und Hamburg – natürlich, wo sonst. Ich schlürfte gerade teuren ICE-Kaffee im "Bordrestaurant" zwischen erster und zweiter Klasse, da kam er: Hotte Buchholz höchstpersönlich, der kleine große Deutsche in Hollywood, der Maestro, bekannt in jeder Kinogeneration. Er trug einen grauen Dreireiher und war auch sonst – wie jeder echte Filmfreund weiß – schon in Würde ergraut und etwas klapprig geworden. An Bord unseres ICE schlingerte er deshalb eher wie ein altes Väterchen, als sich der Zug in Kurve um Kurve neigte. Aber er schlingerte sehr würdevoll, eben wie ein großer Hollywoodstar.
Die blau-rot uniformierte, etwas dickliche Mitropa-Bedienung erinnerte an einen Gepäckträger als an eine Kellnerin und benahm sich wie die persönliche Stewardess der VIPs: Sie schlingerte sofort auf Hotte zu: "Herr Buchholz, Sie können von Ihrem Platz aus bestellen!" Hotte schüttelte hastig den Kopf: "Ja, aber ich würd' gern eine rauchen. Kann ich hier eine rauchen?" Er zeigte Richtung Tresen, neben dem ja in jedem ICE immer die gleichen Stehtischchen angeschraubt sind, an denen meistens Raucher stehen wie angeschraubt. "Aber Sie können doch an Ihrem Platz rauchen", rief die Gepäckstewardess. "Ich weiß, ich weiß, aber ich wollt mir mal die Beine vertreten", sagte Buchholz, schlingerte an meinem Tisch vorbei zum Rauchertischchen und damit aus meinem Blickfeld.
Am Tisch neben mir hatte ein mittelalter, blondgelockter ICE-Fahrgast die ganze Zeit im kostenlosen ICE-Magazin gelesen. Ich hatte mich immer gefragt, wer sich in diesen Heften tatsächlich einen Text durchliest. So sehen die Leser also aus – ein bisschen wie eine Mischung aus Sozialpädagoge und Berufsschullehrer. Er war inzwischen auch auf den älteren Herren aufmerksam geworden, der im Stehen rauchen wollte. Das Gespräch mit der Bedienung hatte der Pädagoge offenbar nicht mitbekommen, aber nun konnte er Hotte beim Rauchen beobachten und ich sah, wie es in seinem Lehrerhirn arbeitete.
Nun hieß es, sich anzustrengen: Wie konnte man cool und doch wissend und angemessen huldigend reagieren, wenn Hotte wieder zwischen unseren Tischen hindurchschlingerte? Mir fiel natürlich zuerst "Die Glorreichen Sieben" ein: Der Westernklassiker, mit dem Buchholz als "Chico" in Hollywood einschlug – natürlich, was sonst. Ein Knaller: "Ah, das war der beste Schuss, den ich je gesehen habe", werde ich rufen, wenn Hotte mir gegenübersteht. Und er wird antworten: "Pah! Der schlechteste! Ich habe auf das Pferd gezielt!" Herrlich! Ein Knaller!
Aber Moment: So war es ja gar nicht: Chico sagt doch die erste Zeile... Nein, dann geht es natürlich nicht... Und überhaupt: Ob es Hotte wirklich witzig findet, wenn man ihm in einem ICE Ende 2002 immer noch mit einem Film von 1960 ankommt... Wo er doch in den letzten Jahren so viel Anspruchsvolles gemacht hatte! Ich wette, der Berufsschulpädagoge am Nebentisch hat schon einen Superspruch auf Lager! So wie er grinst! Mist! Er wird mich ausstechen! Belesener Affe – ich hatte mich schon immer gefragt, wie diese superschlauen Cineasten aussehen, die stets das passende Filmzitat parat haben!
Dann kam mir der rettende Gedanke. Ich hörte Hotte schon die Kippe ausdrücken und der dicken Stewardess eine heisere Verabschiedung zuraunen. Mir fiel "Das Leben ist schön" ein. Hah, ein Benigni – darauf ist sicher auch der Buchholzexperte neben mir nicht gekommen! Da spielt Hotte doch diesen Arzt mit Rätselleidenschaft. Genau: Ich werde ihm die Lösung des Rätsels entgegenzischeln, mit dem sich der "Guido" im KZ zu erkennen gibt... Ach, na eben: Das Ganze spielt ja im KZ! Mist, das ist natürlich gefährlich. Kann man ja ganz schnell missverstehen, gerade hier im ICE zwischen Berlin und Hamburg. Gerade mit so einem politisch korrekten Oberlehrer am Nachbartisch.
Verflixt! Da kommt Hotte schon zurück, hält sich an den Sitzen fest. Mein Nachbar strafft seinen Rücken, hebt den Kopf, Hotte schlingert ins Bordrestaurant-Abteil, steht vor uns – und ehe ich was sagen kann, öffnet mein Konkurrent den Mund – und – sagt: ----- "Herr Buchholz, nä?"
Wie bitte? Herr Buchholz? Nä? Was soll er denn dazu schon sagen?! Genau: Hotte nickt schüchtern, murmelt ein "Hm-hmm", grinst kurz verlegen und – ist schon an uns vorbeigeschlingert. Wenn man im Lexikon unter "Verpasste Gelegenheit" nachschlägt, ist da sicher ein Foto von dieser ICE-Szene drin.
Ich nahm mir damals fest vor, bei meinem nächsten Treffen mit Horst Buchholz schneller zu ziehen. Heute wissen wir, dass es dazu nicht mehr kam. Erst jetzt kann ich darüber sprechen, und bis heute konnte ich vor Scham keinen Kaffee mehr im ICE-Bordrestaurant trinken. Und nie – niemals! – werde ich dieses kostenlose ICE-Magazin anrühren. Man sieht ja, wozu das führt.
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