Meine wöchentliche Abendfahrt Hamburg-Berlin steht an. Der 20 Uhr- Zug fährt pünktlich in Hamburg ab und ich entere sogleich den Speisewagen. Ich habe mein Tagewerk brav verrichtet und bin der Ansicht, mir ein 180g-Putensteak mehr als verdient zu haben. Huch. Was ist denn da bitteschön los? Ich bin gewohnt, den Speisewagen inklusive Kellner zu dieser Stunde für mich alleine zu haben. Aber von wegen. Es gibt genau einen freien Tisch. Im Zentrum des Speisewagens hat sich die A Cappella-Popgruppe DIE PRINZEN breitgemacht, alle weiteren Tische, bis auf einen, sind mit Geschäftsreisenden belegt. Ich nehme den einzigen freien Tisch, einen Zweier-Tisch, und warte. Warte auf den Kellner.
Inzwischen schaue ich mir die PRINZEN an. Es sind vier Personen. Der erste ist aufgedunsen und hat hässlich lila gefärbte Haare. Der zweite sieht aus wie ein Freiburger Architekturstudent. Der Dritte sieht aus wie Michael Stipe von R.E.M., er telefoniert andauernd mit einem Nokia Communicator, jeder seiner Sätze fängt an mit „Das Ding ist, also...“. Der vierte sieht aus wie Campino von den Toten Hosen, nur ohne die Backenschwellung.
Wann kommt denn bitte der Kellner. Ich brauche Essen und Wein.
Warte.
Warte.
Er kommt nicht.
Ein Blick in die Küche des Speisewagens. Der Kellner, ein etwa 60 Jahre alter Südosteuropäer, er steht in dieser Küche und weint. Wirklich wahr. Was denn los sei, frage ich. Schluchzend entgegnet er: „Ich bin alleine hier, der ganze Speisewagen voll. Was soll ich machen?“ Ich schlage vor, vielleicht einfach mal von Tisch zu Tisch zu gehen und Bestellungen aufnehmen, so total crazy, kellnerlike halt.
Er gehorcht. Tisch 1 (hinter mir) bestellt Schweinemedaillons und eine 0,2l-Flasche Bordeaux. Tisch 2 (auch hinter mir, daneben) bestellt ein Radeberger. Tisch 3 (ich) bestellt Schweinemedaillons und eine 0,375-Flasche Cabernet Sauvignon. Tisch 4, ein mittelalter Alptraum in Trevira mit Musterkoffer, fragt original, ob das Hirschragout aus der Saisonkarte empfehlenswert sei, bestellt auf das Schulterzucken des Kellners hin Grünkohl mit Kassler und einen Grauburgunder. Tisch 5+6, also die Prinzen, bestellen insgesamt 2 Grüne Tee, 2 Radeberger, 2 0,375-Flaschen Cabernet Sauvignon, 4x Salat mit Putenbruststreifen, ein Wasser, eine Cola, ein alkoholfreies Bier. Tisch 7 bestellt zwei 0,2l-Flaschen Bordeaux, Tisch 8 bestellt zwei Milchkaffee.
Der Kellner, ein korpulenter, wahnsinnig lieber Mann, kommt mit verweinten Augen und dunkelviolettem Gesicht in die Küche zurück, reißt hilflos die Stahltüren der Kühlung auf, findet an Convenience-Essen noch genau drei eingeschweißte Beutel, nämlich 1x Chili con Carne, 1xCurry-Chinapfanne und 1xGrünkohl. Ansonsten sind die Regale der Kühlung leergefegt. Er kapituliert. Ich rate ihm, erst mal die Getränkebestellungen fertigzumachen und dann die Essensbestellungen umzukoordinieren. Er steht regungslos da. Gelähmt.
Er tut mir leid. „Soll ich Ihnen helfen?“ – „Nein, das geht nicht“.
„Aber ich könnte schon mal die Getränke fertigmachen, Sie kümmern sich um das Essen“.
Er schaut mich lange an: „Arbeiten Sie auch bei der Bahn?“
Ich lüge: „Ja, klar, ich bin auch bei der Mitropa. Kommen Sie, kein Problem. Lassen Sie mich mal machen“.
Er stellt sich an die Kasse und bongt die nächsten sieben Minuten erst mal alle Bestellungen. Derweil entkorke ich Wein, zapfe Bier, stelle Tabletts mit Getränken zusammen. Der Kellner verzweifelt an der Kassentechnik. Also fange ich an zu servieren. Das ist übrigens kein Eigennutz, aber ich habe mir ausgerechnet, dass ich so am schnellsten an meinen Wein komme. Wenn ich warte, bis der Kellner das geregelt bekommt, dann verdurste ich.
Die PRINZEN grinsen mich an.
Der Kellner schmeißt die verbliebenen Nahrungsmittelreste in die Mikrowelle. Nach einigen Minuten habe ich alle Bestellungen, nach Tischen geordnet, auf Tabletts gestellt. Der Kellner beginnt zu servieren, die Lage entspannt sich, ich setze mich wieder hin. Inzwischen hat mir gegenüber ein schmieriger Typ Platz genommen, der die PRINZEN als PROMIS identifiziert hat und sich an sie heranschleimt. „Entschuldigung, ich bin auch in der Musikbranche“ salbadert er los und fängt an den Lilahaarigen zuzutexten. „Fahren Sie jetzt zu einer Probe?“ – „Nein, ins Studio“, ist die korrekte Antwort. „Sind Sie aus Hamburg?“ – „Nein, aus Leipzig“. Der lilafarbene bleibt freundlich.
Tja. Ich habe mir vorgenommen, die PRINZEN als Kommerzidioten zu strafen, zu verreißen, niederzumachen. Aber keine Chance. Sie sind freundlich, machen gute Witze, unterhalten sich miteinander, sitzen friedlich herum und unterhalten sich über den Mixdown ihres Albums, das im März erscheinen soll. Sie sind superdupernett. Keine Frage. Der Schleimer drückt dem Lilafarbigen sogar irgendeine selbstgebrannte CD mit selbstgemachtem Schrott, sowie einen krakeligen Zettel mit seiner Telefonnummer in die Hand. Das ist ja kaum zu ertragen. Ich kucke ihn bitterböse an, und daraufhin verzieht er sich tatsächlich.
Trinke die 0,375l-Flasche Cabernet aus und bin erst mal versöhnt. Es war schlau, dem Kellner zu helfen, denn nun bin ich sein Darling. Währen die anderen eine Stunde aufs Essen warten müssen, bekomme ich mein verwestes Putencurry schon nach 45 Minuten. Und eine zweite Flasche Cabernet obendrein. Und drei Brötchen.
Später muss ich Pipi. Als ich, schon etwas angestrahlt, wiederkomme, stehen zwei der Prinzen vorne im Speisewagen, im Bistrobereich und quatschen mich an. Ob ich Journalist sei. Weil ich mir dauernd Notizen mache. Ich bejahe. Dann solle ich mir unbedingt Ihre Website anschauen. www.dieprinzen.de . Das würde sich tierisch lohnen, sie würden das alles selber machen. Ich bin ziemlich gerührt. Und auch betrunken. Und finde daher alles gut. Bruderschaft trinken und so. Klar. Gern.
Ich bestellt die Rechnung. Der Kellner legt mir meine 27 Euro-Rechnung hin und sagt, „gib mir zwanzig, ist okay, weil Du mir geholfen hast.“. Ich glaube, er ist froh, dass er den Abend überlebt hat.
Es ist Zeit für Hymnen. Ich werde jetzt meine Kopfhörer aufsetzen und dann erst Dinosaur Jr, dann Oasis und dann Robbie Williams hören, natürlich den Song „Feel“, ich alter Konsensidiot.
Fazit: Man muss die Prinzen mögen.
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