1970 fuhr ich zum ersten Mal auf eigene Faust weg, mit einem Freund nach England. Wir hatten jeder 400,- DM und wollten damit 4 Wochen über die Insel trampen. Dieses Budget war auch vor 31 Jahren schon recht mager, man musste also gut wirtschaften. Dazu gehörte das Übernachten an Orten, die keine Gebühr erhoben (oder nur eine sehr geringe). Ein Musikpavillon im Londoner St. James Parc, ein Schafstall, einige Telefonzellen, eine Zelle in einer Polizeiwache, ein Eisenbahnwagon, der auf einem Feld als Werkzeugschuppen stand, Heuballen. Wenn man 17 ist findet man das alles sehr romantisch und aufregend, und das war es ja auch. Und England sah aus wie in den alten Miss Marple Filmen.
Eines Tages standen wir wieder an der Straße und hielten die Daumen raus. Trampen war kein grosses Problem in dieser Zeit, wir wurden immer ziemlich schnell mitgenommen, einmal sogar in einem unglaublich riesigen, feudalen Bentley, die Leute waren bestimmt ein pensionierter General samt Gattin, sie erzählten uns, ihr Sohn sei derzeit per Anhalter auf dem Kontinent unterwegs, da wollten sie mal nicht so sein. An diesem Tag nun hielt ein wirklich schwer ramponierter LKW mit offener Ladefläche, die mit grossen blechernen Mülltonnen voll gestellt war. In der Kabine saßen zwei ziemlich wirr aussehende Typen mit Haaren bis auf die Sitze, aber die hatten mein Freund und ich auch. Wir setzten uns zu den Tonnen und wurden zu einer Müllkippe gefahren. Dort löschten die beiden ihre Ladung und fragten erst dann, wo wir eigentlich hin wollten. Unser ungefähres Ziel war Wales, aber wir waren da flexibel. Die Müllmänner meinten, wir könnten gerne ein paar Tage bei ihnen verbringen, sie wohnten in einer Landkommune in den Cotswold Hills, nahe Cheltenham. Landkommune klang schon mal gut, zudem hatten sie sich nach dem Abladen einen Joint angemacht und teilten ihn freundlich. Hier waren wir richtig. Wir fuhren also mit. Der Hof, auf dem insgesamt 5 dieser Freaks lebten, war wunderbar, sehr abgelegen, man hatte einen weiten Blick über das Land, es gab einen Gemüsegarten mit allerlei Kräutern und einem Trampolin, auf dem die Bewohner oft und gerne rumhopsten. Strom gab es keinen, jedenfalls nicht immer, eine Leitung lag zwar, aber die wurde durch einen Münzautomaten regiert, und da das Geld knapp war (die beiden Müllmänner waren die einzigen mit einer Art Job) verzichtete man auf Strom. Es gab auch kein Radio und nicht einmal einen Plattenspieler, was aber nicht nötig war, da die Fünf selber Musik machten, und das sehr gut.
Es vergingen einige Tage. Dann tauchte eines Nachmittags ein Besucher auf, er war etwa Anfang 20, ziemlich gross, schlank, schulterlange Haare. Ein wirklich schöner Junge, habe ich gedacht, was ich bis heute noch ganz genau weiß, da ich bezüglich Männern diesen Gedanken ansonsten nicht kannte. Er trug ein abgewetztes Jacket aus einem dunkelblauen Samt und eine schwarze Hose. Und einen Gitarrenkoffer. Er war offenbar zu Fuss hergekommen, was von der Straße weiter unten ein ganz schönes Stück war. Man begrüßte sich, wir wurden ihm kurz vorgestellt, 'friends from germany'. Der Besucher sagte mit leiser Stimme 'Hi, I'm Nick.' Das wars auch schon. Er setzte sich im Wohnraum auf eine Matratze, die am Boden lag, schlief, später öffnete er seinen Gitarrenkoffer und begann zu spielen, meist alleine, auch mal mit den anderen. Ich war von diesem Typen hingerissen, er hatte fast etwas autistisches an sich, redete kaum, aß nichts, hatte die Augen meist geschlossen. Nur wenn er Musik machte wandelte er sich. Er hatte eine unglaublich schöne Stimme, und wie er Gitarre spielte ist nicht zu beschreiben. Mein Freund und ich, wir waren absolut fasziniert und ich weiß noch wie ich dachte: 'Der müsste ein ganz grosser Star werden!' Die Stücke, der er spielte, kannte ich alle nicht, bis auf 'Crazy man Michael' von Fairport Convention. Es waren wunderschöne Kompositionen, die sofort im Ohr hängen blieben, und ich wünschte mir, ich hätte einen Kassettenrecorder dabei gehabt. So blieb dieser Abend nur in meiner Erinnerung.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich mit dem Gast ansonsten noch Worte gewechselt habe, ich glaube aber nicht, er hatte so eine Out-of-this-World-Aura um sich. Am folgenden Tag war er schon weg, als ich in die Küche kam. Die Müllmänner hatten ihn anscheinend mitgenommen. Ich fragte beim Frühstück, wer das gewesen sei, und einer der Bewohner, Dennis, sagte: 'His name is Nick, he recently made a record, but we don't have it, you know.' Ja, ich wusste, kein Plattenspieler. Ich war 17, zum ersten Mal alleine unterwegs, alles war furchtbar aufregend, man musste das erst mal verarbeiten. Ich bin damals vielen Dingen nicht sofort weiter nachgegangen, so auch dieser nicht. Ich fragte nicht einmal nach dem vollen Namen des Gastes. Ich dachte oft noch an seine Musik, auch zu Hause. hielt ihn aber für eine lokale Größe und versuchte gar nicht erst, mehr darüber heraus zu finden. In diesem Sommer hörten wir so unglaublich viel faszinierende Musik, es war die Zeit der Open Air Festivals.
Einige Zeit danach, ich war längst zurück aus England, kam ein Freund mit einer LP vorbei, es handelte sich um einen Sampler der Firma Island Records. Darauf waren unter anderem Stücke von King Crimson, Fairport Convention, Free, Spooky Tooth, Bands, die damals enorm populär waren. Wir hörten das Album zusammen, und plötzlich höre ich diese Stimme wieder. Und ein Stück, das mir seit den Cotswold Hills unvergessen war. Ich fasse es nicht, greife mir das Cover, sehe nach, wer das ist. 'Time has told me' steht da und 'Nick Drake'. Hi, I'm Nick. Ja, er war es. Aber wer war Nick Drake? Ich versuchte, das Album 'Five leafes left' zu bekommen, es war nicht möglich. Ich spielte die Kassettenaufnahme des Stückes, die ich mir von der LP gemacht hattem, bis das Band zerschlissen war. Das war alles, was ich von Nick Drake hatte. Ich vergaß ihn. Einige Jahre später erschien eine Kassette mit 3 LPs, 'Fruit Tree - The complete recordings of Nick Drake'. Ich kaufte die Platten. Da waren sie wieder, die Stücke, die ich vor ein paar Jahren auf diesem wunderbaren Hof in England gehört hatte. River Man. Three Hours. Way to Blue. Fruit Tree. Und dann alle die anderen, die ich noch nicht kannte, von den LPs Bryter Layter und Pink Moon. Und dann las ich alles über Nick Drake in dem beiliegenden Booklet. 1974 hat er sich umgebracht. Ich sehe ihn heute noch auf der Matratze sitzen, die Augen geschlossen, die Gitarre in den Händen, drum herum Katzen, ein Hund, es roch nach Shit und Kaminholz und Dung.
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