Liebe Paparazzi-Senatoren, lange habe ich nichts von mir hören lassen, denn die Berliner Kellerprügelei mit dem Moderator dieses Forums hatte meine Finger verkrüppelt und es dauerte einige Zeit, bis ich mit den blutigen Klumpen wieder tippen konnte.
Doch nun treibt mich eine höhere Kraft, etwas von historischer Bedeutung zu berichten. Denn:
ICH SAH SABENA STERBEN
Ich war dabei, hautnah. Ich vernahm ihr letzes Röcheln, ich war einer ihrer letzten Passagiere. Gestrandet in Brüssel am Dienstag, den 6.11.2001 um 12:30 Uhr.
Gestattet mir, mich in Hypnose zu versetzen, danke....10.....5....2, 1, 0
ZISCHHH ----
Ich sehe....den Hamburger Flughafen, plexiglasüberwölbt, lichtdurchflutet. Mein Freund Tim und ich holen unsere Tickets am Sabena-Schalter ab. Zielort Lissabon, mit Zwischenstation Brüssel. Eine rundliche, belgoide Frau mit blondem Haarlacktürmchen druckt unsere Karten aus, mit müdem freundlichem Hundeblick stellt sie fest: ³Oh, doppelt gebucht. Geht ja nicht. Das änder ich mal schnell. Der Flug am Freitag Mittag wurde abgesagt. Muß ich umbuchen. Uns gehtâs nämlich sehr schlecht.ã
Ein Omen. Ich denke nur: Sabena, Sabena. Verspätungen, Fehlbuchungen, Verplanungen, Verfehlungen. Aber trotzdem lieben wir Dich. Denn Du bist cool, Du läßt meine 20 Kilo Übergepäck immer durchgehen, seiâs aus Doofheit, seiâs aus Großzügigkeit. Nicht so Suisse Air (zu recht gestorben), die mir in Japan allen Ernstes 2500 DM für meine übergewichtige Orgel abnehmen wollten, ein Zwanzigfaches des Kaufpreises.
Sanft hebt die Maschine ab, sanft wird sie landen.
Sabena, die Sanfte.
Der Flug verläuft ohne Nennenswertes, ich pinkel auf die flauschigen Wolkendecken, will darin baden, mich wälzen, orgastisch vergehen. Vielleicht auch darauf herumtanzen. Mein Kompagnon und ich sind sehr müde, wir haben nur drei Stunden in der Nacht zuvor geschlafen, ausgedehnte Proben, alles auf den letzten Drücker, kennt man ja.
In Brüssel angekommen, quetschen sich alle mit ihrem Handgepäck im Gang herum und warten auf den Auslass. Nichts passiert. Dann ergreift die Stewardess das Wort. Es gebe Probleme mit dem Gepäcktransfer, wir sollten unser Gepäck selbst aus dem Flugzeug nehmen. ³Die streikenã, sage ich. Mildes Lächeln von allen Seiten, ungläubig. Wir verlassen die Maschine über eine Metalltreppe, draußen ist das Wetter trübe. Brüssel schweigt, etwas liegt in der Luft.
Mein Gepäck wiegt 30 Kilo, und wer den Brüsseler Flughafen kennt, weiß, was das bedeutet: 1 Kilometer Fußmarsch bis zum nächsten Gate.
Wir betreten die Ankunftshalle und werden Zeugen eines gespenstischen Szenarios. Wer jemals den Film ³Westworldã gesehen hat, weiß, wovon ich rede. Dieser Film handelt von einem künstlich angelegten Wildwest-Vergnügungspark, in dem ferngesteuerte Cowboy-Roboter von Touristen erschossen werden dürfen. Die Roboter schießen so wie die Touristen mit scharfer Munition, sind aber so programmiert, daß sie niemals einen Besucher treffen oder verletzen. Aufgrund eines Fehlers im System macht sich einer der gefährlichsten Kampfroboter, dargestellt von Yul Brunner, selbstständig und beginnt, wahllos die Vergnügungsgäste niederzuschießen. Alarm! Alles wird evakuiert, damit Spezialisten den Killer-Roboter in der nunmehr menschenleeren Wildwest-Stadt jagen können.
Wir betreten also die Ankunftshalle und sehen - nichts. Keine Menschenseele. Bis auf ein paar Reinigungkräfte, die ihre Arbeit stumpf und automatisch verrichten. Die Fluggäste drehen sich buchstäblich im Kreis, versuchen, irgendwo eine Information aufzuschnappen. Kein Mitarbeiter der Sabena weist Ihnen den Weg, streichelt ihre Koffer, zupft an ihren Locken, redet beruhigend auf sie ein.
Entsetzt versammeln sich die Ausgestzten vor dem Info-Bildschirm. Auch hier: nichts. Alle Sabena-Flüge ausradiert. Was zum Teufel ist hier los. Wir zerren unser Gepäck auf eines der Personenbeförderungsbänder, da nähert sich eine ältere Engländerin. Während wir zu dritt durch die langen, entseelten Brüsseler Flure gleiten, beschwört sie uns, sie müsse noch heute in Florenz ankommen. Ihr Gepäck sei aber nicht auffindbar, keiner wisse irgendwas, aber sie MÜSSE noch HEUTE in Florenz ankommen. Ich sehe ihre bebende Unterlippe, zucke mit den Achseln und kichere hilflos. Mit dem Schwung der Verzweiflung löst sie sich von uns und eilt davon, einer ungewissen Zukunft entgegen. Derweil setze ich mich mit unserer Basis in Lissabon in Verbindung, die sollen das für uns regeln. Am anderen Ende der Leitung berichtet mir eine Filippa, es kämen schon erste Katastrophenmeldungen im Radio, man wisse aber noch nichts genaueres.
Das Laufband gibt uns frei und wieder blicken wir uns verwirrt um: es sind keine Trolleys auffindbar. Auch die haben sie eliminiert. Tim schafft es, einen der herumstehenden Rollstühle loszueisen, auf den wir unser schweres Gepäck stapeln. Am Gate 38 soll unser Anschlußflugzeug warten, aber alle Gates sind leer. Piloten und Sterwardessen stehen verwirrt in der Gegend herum, den Tränen nahe. Sie wurden ebenfalls nicht informiert. Wie in Trance schieben wir unsere Last in die Eingangshalle.
Dort haben sich bereits mehrere Fernsehteams versammelt. Alle starren sie ratlos auf die große Ankündigungstafel. Hinter den meisten Anzeigen prangt in gelben Versalien das Wort ³CANCELLEDã. Jetzt ertönt eine Durchsage: ³Aufgrund von Aktionen der Sabena Airlines Mitarbeiter werden alle Anschlußflüge von Sabena Airlines bis auf weiteres ausgesetzt. Bitte begeben Sie sich zum Schalter 11.ã
Unsere Veranstalter in Lissabon teilen uns mit, daß sie sich um einen Weiterflug mit der portugiesischen Fluglinie TAP kümmern werden.
Es ist jetzt 13:30 Uhr. Wir reihen uns in die Schlange vorm TAP-Schalter ein. Aufgebrachte Sabena-Kunden wirbeln mit ihren wertlosen Tickets in Luft herum.
³Tut uns leid, dieses Ticket können wir nicht entgegennehmen. Wollen Sie ein neues Ticket kaufen?ã
Das allgemeine Fluchen und Jammern wird plötzlich unterbrochen von entfernten Gesängen und skandierten Parolen. Wir drehen uns um, und da marschiert tatsächlich die Sabenabelegschaft mit Fahnen und Transparenten um die Ecke, leicht zu erkennen an ihren phosphorgelben Schutzjacken. Sie machen halt bei den leeren Check-In-Schaltern, klettern wie Affen darauf herum und brüllen, dass es eine Freude ist. Ich renne zum Geschehen, ein Flugblatt gesellt sich zu meinen Schuhen. ³SABENA PAS A VENDRE - LâETAT DOIT NOUS REPRENDREã.
³Schnell Tim, aufnehmenã. Er kommt mit seinem Laptop an und schneidet den Ton mit. Ich schieße Fotos mit seiner miesen Digitalkamera. Euphorie ergreift mich, ich bin sofort solidarisch, mit was auch immer. Nachdem unsere erste Neugier gestillt ist, tausche ich Geld um, denn es ist klar, dass wir hier noch Stunden herumhängen werden. Die Schweine ziehen mir von 50 Mark ganze 10 Mark für ³Gebührenã ab. Kapitalistische Kellerasseln! Egal, wir schnappen uns das Geld und fangen an zu trinken, undzwar belgisches Bier, das schlechteste der Welt. Wie bringt dieses kleine Land es fertig, 1000 eigene Biersorten zu verzapfen? Und fast alles Schrott? Mit Namen wie ³Kriekã, ³Het elfte gebod³ (das elfte Gebot - Du sollst nicht trinken, ha-ha-ha) und ³Delirium Tremensã, letzteres eine üble schleimige Flüssigkeit mit 11,6% Alkoholeinlage, dargereicht ³since 1654ã in einer schmutzigweißen Flasche mit schwarzen Punkten, deren Inhalt man nicht erkennen, nur befürchten kann.
17:22 Uhr. Wir dösen in roten Ikeasesseln im ersten Stock, eingerollt wie alte Heringe. Gleich um die Ecke hat ein Künstler sein gräßliches Werk ausgestellt: Leuchtlampen in bunten Farben. Mittendrin liegt ein Barfüßiger ohne Bleibe, von niemandem beachtet. Er hat unverständliche Warntafeln in arabischer Sprache aufgestellt, scheinbar droht ihm eine Abschiebung. Die gestrandeten Fluggäste passieren diese Installation mit Unbehagen, sie ahnen nur zu gut, was es bedeuten könnte, in der Fremde ausgesetzt zu werden.
Nach vielen Bieren endlich die rettende Nachricht: Filippa hat einen Weiterflug nach Lissabon um 21:30 Uhr klargemacht. Durchaus fidel, wenn auch völlig geistesabwesend, wanken wir zurück in die Empfangshalle. Dort herrscht Sodom und Gomorrha. Trotz des strikten Rauchverbots qualmen die angetrunkenen Mitarbeiter der Konkursfirma wie die Schlote und feiern ihre eigene Entlassung. Aus den Plastikbehältern, die sonst mit Metallgegenständen beim Check-In durch den Scanner gejagt werden, haben sie lustige Türmchen gebaut. Andere schieben sich auf Bürostühlen durch die Gänge. Kleine Grüppchen sitzen wie beim Lagerfeuer zusammen und singen maskuline Hymnen.
Eine größere Traube hat sich um zwei Bongo spielende Südländer verteilt, dazu kreischt eine deutlich angetrunkene Gewerkschaftsführerin Politisches durch ein Megafon in die gierigen Objektive der Sendeanstalten. Der Pinsel des Lebens hat ihrem Gesicht harte Striche verpaßt. Wirr flattern die flusigen blonden Haare umher, während ihre bleierne Zunge bemüht ist, die richtigen Worte zu finden. Schließlich reißt ihr ein anderer Mitarbeiter das Megaphon aus der Hand und singt in orientalischen Tonskalen ³Sabéna, Sabéna - S‡benaã.
Vor meinen rotunterlaufenen Augen bilden sich Schleier. Mein Blick folgt dem aufsteigenden Zigarettenrauch, der in dichten Schwaden an den Monitoren der Check-Ins vorbeizieht. ³Sabena - The Qualiflyer groupã. Genau.
Sabena, Du Grand Dame aller Fluggesellschaften!
Noch in der Stunde Deines Ablebens hast Du Würde und Anstand bewiesen!
Gerne habe ich mich in Deine sterbenden Arme geworfen!
Gerne habe ich ein letztes Mal an Deiner alten Brust gesaugt!
Mögest Du in Frieden ruhen!
Sabena, Du Sanfte.
EPILOG
20:00 Uhr. Wir verjubeln unsere letzten Francs in einer Flughafenkneipe. Vor dem Tresen herrscht entfesselte Ausgelassenheit, dahinter die schlechteste Laune der Welt. Die Kunden, allen voran zwei sturzbetrunkene Dänen - Modell jung, massiv und vollbärtig (mit Hosenträgern) / alt, dürr und fusselbärtig - knallen Berge von Münzen auf die Theke, aus denen die entnervten Barbewohner passende Beträge herausfischen müssen. Uns geht es nicht anders. Wir wollen zwei letzte ³Hoegaardenã bestellen, je 0,25 Liter. Die kosten zusammen aber genau 5 Francs zuviel. Der Barmann ist nicht zu erweichen. Also bestellt Tim 1 Glas mit 0,5 Liter, das kostet viel weniger. Der Barmann zapft. Tim fragt, ob er die Biermenge jetzt nicht wieder auf zwei kleinere Gläser verteilen könnte, dann würde er auch noch unser Restgeld kriegen und damit mehr verdienen. Der Zapfvorgang wird für ein paar Sekunden unterbrochen, ein Laserstrahl zischt aus den Augen des Angestellten und droht meinen Freund zu vernichten. ³Ist schon okã, lallt Tim und kommt mit dem übergroßen Glas an unseren Tisch gewankt. Draußen vor der Tür passieren Scharen von Übermüdeten die Kneipe. Sie alle führen das immergleiche Einheitsmodell des zur Zeit sehr beliebten rollenden Ziehkoffers mit sich. Ich schreibe eine SMS an Mariola: ³Barmann ist Idiotã. Kurz darauf ihre Antwort: ³Prostã. Tims Gesicht zieht sich zusammen. Er hat einen kleinen Jungen mit Babyziehkoffer entdeckt. Ein verkleinertes Modell des kapitalistischen Realismus.
³Ist ja ekelhaftã, brummt er.
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