Frau Strigl zu treffen ist immer ein großes Vergnügen, man kommt vom hundertsten ins tausendste, so als kenne man sich schon seit der Schulzeit, und seitdem ist gerade mal eine Woche vergangen, ein eigenartiges Phänomen. Die einzige Veränderung ist, dass man innerhalb dieser Woche vom Du zum Sie gewechselt ist. Aber natürlich bin ich nicht mit Frau Strigl zur Schule gegangen, weil meine Schulen nicht in Wien standen, ihre aber, und zwar alle im neunten Bezirk (Wasagasse, immer zu spät gekommen, zu nahe an der Wohnung), sie war auch nie groß weg von Wien, einmal ein Semester in Philadelphia, auf die Idee wäre sie auch nicht freiwillig gekommen, da hat sie eine Freundin reingeschubst wie in warmes Wasser voller toter Hunde, und dann ist sie doch umso lieber wieder zurückgekommen, das war schon so als sie Kind war, als ihre Eltern mit ihr und ihrer Schwester nach Italien auf Urlaub fuhren, das gefiel ihnen nicht, Spaghetti hin oder her, das Brot war ungenießbar wie das Trinkwasser dort, dass beide Kinder, wenn es zurück ging, auf der Rückbank des VW Käfers mit Kolbenfresser, je näher sie an die österreichische Grenze kamen, gejubelt und demonstrativ mit den Schlüsseln geklingelt hätten, und immer lauter zu singen begannen, schier vor Glück. Was sie denn da gesungen hätten? „Wahrscheinlich die Bundeshymne“ sagt sie lachend. Ich kann das nachvollziehen, auch für mich gab es als kleines Kind nichts schöneres als Brot und Wasser, möglichst hart und möglichst kalt; auch habe ich die regelmäßigen, von Robert Menasse initiierten Donnerstagsdemos gegen die Regierung vor ca 20 Jahren, deren Soundtrack nervtötendes Schlüsselgeklingel war, so gedeutet, dass die Klingler nichts anderes als möglichst schnell nach Hause wollten, viel hätte nicht gefehlt, und sie hätten auch noch die Bundeshymne gejohlt, um ihrem Wunsch mehr Ausdruck und Gewicht zu geben.
Frau Strigls Liebe zu Wien ist so groß („die ideale Stadt, ein großes Geschenk, hier wohnen zu können“), dass sie, die nie, bis auf dieses eine Philadelphiaintermezzo, länger woanders war, vermutet, sie sei aus Gewohnheit leidenschaftlich, man labt sich am Stillstand, und sie steigert sich in diesen Zustand so rein, dass sie gar nicht bemerkt wie ihr Mann das Café Ritter, wo wir sitzen, betritt, und ihr auf die Schulter tippt und flüsternd meint, sie sei so laut, dass man sie bereits auf der Straße höre.
Das ist das Stichwort, sie senkt ihre Stimme konspirativ, so als dürfe das jetzt niemand hören, eine Sache, über die sie ewig reden könne, das ist Ulf.
ULF? Ultra low floor, die Niederflurstraßenbahn? Ja, Ulf sei zwar leise, sagt sie immer leiser werdend, aber innen stickig wie die Nacht, das sei ja wirklich nicht zum Aushalten, im Gegensatz zu den alten Garnituren mit den großen Schiebefenstern, hätten die hier nur kleine Kippfenster, da könne ja gar keine Luft zirkulieren, dass man da keine Klimaanlagen eingebaut hätte, das sei wohl nur dem Umstand geschuldet, dass man, als man sie plante, nichts von einer globalen Erderwärmung ahnte. Jetzt hätten sie noch kiemenartige Lamellen eingebaut, aber das sei nur Kosmetik. Und auch an ihrem Lieblingsbadeort, der großen Bucht in der alten Donau, an der Großen-Bucht-Straße, sei etwas schief gelaufen, durch den Autobahnbau, hier könne auch nichts mehr zirkulieren, der unterirdische, kiesgefilterte Zufluss, der immer für die Frischwasserzufuhr gesorgt hatte, sei verstopft worden, das wisse jeder, aber man schwiege seitens des Tiefbauamts, hier müssten jetzt dringend Kiemen, Lamellen oder wieder Kies her, sonst würde hier bald mal alles umkippen.
Ein paar Jahre später traf ich sie wieder mal, ich war betrunken, und mir rutschte das Du aus, sie lachte hämisch, als ich sie kurz drauf wieder siezen wollte, tja, das ginge nun nicht mehr, einmal geduzt, immer geduzt, sie heiße übrigens Daniela