Es ist nicht mehr so kalt, und als ich an mir herumtaste, spüre ich, dass es mir wohl ganz gut geht. Obwohl ich die Augen nicht aufkriege. Das ist halt so. Nach dem Schlafen dauert es immer, bis ich die Augen aufkriege. Da ist Sonne links auf dem Gesicht, auf der Backe wird es warm. Ich taste mir über den Mantelkragen, die Stelle an meiner Hand schubbert über die Kruste, egal, es geht mir ganz gut. Vielleicht ist das relativ. Der Regen hat aufgehört, denn ich liege hier ziemlich im Trockenen - es riecht sogar ein bisschen nach Erde und Büschen. Nicht wie woanders nach Müll oder Abgasen. So liege ich da. Auf den komischen Lärm achte ich nicht. Es brodelt und blökt und sirent irgendwo. Egal. Ich schiebe das Rauschen im Schädel weg und versuche, die Augen aufzukriegen. Geht nicht.
Es ist wohl jetzt April oder so. So einfach ist das alles nicht. Ich habe den Job verloren, mal wieder. Ganz früher war ich mal Übersetzer und habe nebenher für zwei oder drei Zeitungen gearbeitet. Bis sie mich bei den Zeitungen rausgeworfen haben, weil ich oft voll war. Und mit dem Übersetzen klappte es nicht mehr gut. Dann war ich Anzeigenverkäufer in der Banlieue im Westen. Da haben sie mich rausgeschmissen, weil ich meist voll war. Dann hab ich im Möbellager Möbel geschleppt, ganz weit draußen in der Banlieue in einem Neubaugebiet. Möbelschleppen, für sowas bin ich nicht gebaut. Die haben mich bald an die Luft gesetzt. Weil ich nicht dafür gebaut bin. Und weil ich eh immer voll war.
Zuletzt war ich Totengräber auf dem Friedhof von Puteaux. Was soll ich auf so einem Friedhof Tote eingraben?, und was soll ich erst Recht auf dem Friedhof von Puteaux... Obertotengräber oder so wird da keiner, und es gibt da noch weniger Kohle als mit Bettelei in der Stadt. Seitdem ich den Job los bin, lass ich mich richtig volllaufen. Das habe ich auf dem Friedhof ja auch gemacht. Weswegen die mir dann gesagt haben, "merde, casse-toi" - Scheiße, hau ab. Obwohl ich da auf dem Friedhof meist nicht völlig total voll war. Aber egal. In Puteaux kann man eh kaum leben, bis in die Stadt ist es eh zu weit, und die Flics von Puteaux lassen einen eh überhaupt nirgendwo bleiben.
Dann bin ich an die Seine runtergegangen und hab die Flasche leergemacht. Das Wasser war grün, ich hab es unscharf gesehen, ganz unscharfes Grün hinter unscharfem Zement. Vorne genauso unscharf wie hinten. Da war verdammt viel Verkehr auf dem Zement an der Seine. Gleich vor mir. Unscharfer Verkehr, unscharfer Zement. Die ganzen Bewegungen. Alles donnert hier auf dem Zement vorbei. Lastwagen, Autos, Mopeds, alles. Das kann eklig werden, wenn du voll bist und über den Zement rüber willst.
Irgendwie kam ich doch rüber, alles war unscharf, die Bewegungen, der weiche Zement und das Geländer aus Watte. Wer weiß, was das war, das Zeug da in der Flasche. Hinten bin ich dann auf die Brücke nach Neuilly geklettert. Immer über den Zement. Da rast wieder alles drüber. Egal, durch Neuilly musst du durchgehen, wenn du in die Stadt willst, centre ville. Im centre ville geht's noch, da gibt es diese Zeltplätze, wo sie einen schlafen lassen. Wo man sogar ein Zelt bekommt. Hat mir einer erzählt. Und es gibt Leute, die dir Suppe bringen. Sowas gibt's da.
Weit bin ich nicht gekommen, in Neuilly. Unter ein Gebüsch bin ich gekrochen, als die Flasche alle war. Da sieht einen keiner rumliegen. Es sind ja jetzt Blätter an den Zweigen dran. Da liege ich jetzt, die Sonne heizt mir links die Backe, ich kriege noch nicht die Augen auf und egal, ich spüre, dass es mir wohl ganz gutgeht. Relativ vielleicht.
Aber dieser Lärm. Kein Donnern von Lastwagen und sowas, auch nicht das Hallen der Metro von irgendwo, nein, es ist was Anderes. Es brodelt und blökt und sirent. Was ist das? Da redet doch einer. Nein, der redet nicht einfach so, der redet in einem Lautsprecher. In einem verdammt großen Lautsprecher, oder das sind gleich ein paar. Es dröhnt mir den Schädel voll.
Als ich mich zur Seite wälze, komme ich mit der Stelle an der Hand an irgendwas Hartes, und das tut so weh, dass ich die Augen aufreiße. Na immerhin. Irgendwas sehe ich. Aber was ist das. Da ist ja sowas komisch Blaues oben. Keine Ahnung, was das ist. Gleich vor mir steht was Rundes Gerades. Ein Metallbein. Ein Gestell oder sowas, und auf dem Gestell drauf weht was Blaues. Ein blauer Regenmantel. Da steckt einer drin im blauen Regenmantel. Ah so, ein Typ im blauen Regenmantel, der auf einem Gestell draufsteht. Von hinten seh ich den Typ im blauen Regenmantel, von hinten unten. Ah so, der redet da in den Lautsprechern, der ist das, der redet da im Rhythmus, und der rudert mit den Armen im Takt. Der blaue Regenmantel weht in blauen Wellen bis unten, immer im Takt.
Zu trinken gibt es hier nichts. Der Typ sagt im Lautsprecher jetzt was über Steuern, ich höre "les impôts", die Steuern. Was ist das gleich noch, die Steuern. Als es mir einfällt, sagt er was über Gesundheitswesen. Was sind das gleich noch, diese Gesundheitswesen? Als es mir einfällt, ziehe ich mich an dem Gestell hoch. Es geht erst nicht, weil ich nicht hochkomme, und weil ich mit der Hand aufpasse. Dann geht es. Ich schwanke und stelle mich hin. Jetzt steht der blaue Regenmantelrücken genau vor mir, rudert mit den blauen Regenmantelarmen, und der Typ drin redet von innerer Sicherheit. Ich überlege, was das gleich noch ist. Ich rudere mal so mit meinen Armen, der Typ rudert wieder mit seinen Armen, ich ruder wieder mit meinen. Und so rudern seine Arme mit meinen mit.
Da kommt auf einmal anderer Lärm. Von vorne kommt der. Klingt wie im Fußballstadion. Ich beuge mich ein bisschen zur Seite und sehe an der blauen Regenmantelschulter vorbei. Erkenne aber nichts, ist alles unscharf da. Aber der Lärm. Der blaue Regenmantel flappt zur Seite. Da, jetzt sehe ich was, das sind ja Leute, viele Leute, alles ist voll mit Leuten wie im Fußballstadion, und alle sehen sie zu mir hin. Als ich mit den Armen rudern und was von Gesundheits-Sicherheit oder war übers Trinken sagen will, greifen mich schwarze Greiferarme von rechts und von links. Sie greifen mich brutal und schleifen mich weg. In einem Affenzahn. So zackzack bin ich noch nie weggeschleift worden.
Als mich die schwarzen Arme in so eine schwarze Greiferwanne stopfen, klammere ich mich einfach an der Tür fest und dreh den Kopf. Da ist er, der Typ im blauen Regenmantel. Steht wieder auf seinem Gestell und sieht zu mir her. Ist das nicht der, der Präsident werden will? Das hat mir einer erzählt, der eine Zeitung gefunden hatte. Da war das Gesicht drin. Wie von einem schönen Nussknacker. Das ist er. Ich rufe rüber, obwohl ich ganz heiser bin, ich rufe "nee nee, du wirst kein Präsident, du bist doch nur so ein Typ im blauen Regenmantel".
Er hat mich nicht gehört, es ist zu laut hier und ich bin zu heiser. Da rudert er mit den Armen zu den schwarzen Greifern und ruft, "mais relâchez-le!", lasst ihn doch los. - Sie lassen mich los. Der blaue Regenmantel dreht sich wieder weg, biegt sich das Mikrofon zurecht, stellt sich in Positur und redet weiter. Über "l'europe moderne".
Mir ist das hier zu laut. Ich dränge mich zwischen die Leute und dann weiter nach hinten. Da finde ich vielleicht was zu trinken oder ein Frühstück.
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