Müritz
Meine Mutter wurde geboren in dem Ostseebad Müritz, das zwischen der Rostocker Heide und dem Fischland liegt. Ihr Großvater mütterlicherseits, Karl Schütt, besaß dort eine Pension namens „Haus Glückauf“. Mein Urgroßvater warb in Zeitungsinseraten um Gäste. Nach dem Ersten Weltkrieg tat er das vor allem in Prager Zeitungen, und er hatte damit Erfolg: Es kamen viele Gäste aus Prag in seine Pension, und zwar vor allem deutschsprachige jüdische Bürger. Im Juli 1923 mietete Franz Kafka, wohl veranlaßt durch ein solches Zeitungsinserat, ein Zimmer in „Haus Glückauf“. Kafka war bereits schwer an Lungentuberkolose erkrankt, und der Urlaub am Meer bedeutete für ihn den ersten Schritt einer Lösung von den ihn peinigenden Abhängigkeiten in Prag. Das Meer und das Klima in Müritz schienen ihm gut zu tun, jedenfalls schrieb er am 13.7.1923 an Else Bergmann: „Das Meer ist wahrhaftig in den 10 Jahren, seitdem ich es nicht mehr gesehen habe schöner, mannigfaltiger, lebendiger, jünger geworden.“
Was ihm aber den Briefen zufolge in Müritz am besten gefiel, war das Ferienheim des Berliner jüdische Volksheims, das sehr nahe bei seiner Pension lag. So schrieb Kafka an Hugo Bergmann: „Um meine Transportabilität zu prüfen, habe ich mich nach vielen Jahren der Bettlägerigkeit und der Kopfschmerzen zu einer kleinen Reise nach der Ostsee erhoben. Ein Glück hatte ich dabei jedenfalls. 50 Schritte von meinem Balkon ist ein Ferienlager des Jüdischen Volksheims in Berlin. Durch die Bäume kann ich die Kinder spielen sehn. Fröhliche, gesunde, leidenschaftliche Kinder. Ostjuden. Durch Westjuden vor der Berliner Gefahr gerettet. Die halben Tage und Nächte ist das Haus, der Wald und der Strand voll Gesang. Wenn ich unter ihnen bin, bin ich nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks."
Kafka, die Vase und meine Großmutter
Mein Urgroßvater hatte vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter; die jüngste, Christiane (meine Großmutter), war 1920 geboren worden, zur Zeit von Kafkas Aufenthalt in Müritz also drei Jahre alt, und über sie schrieb Kafka in einem Brief vom 3.8.1923 an Tile Rösler. Von Tile Rösler hatte Kafka anscheinend eine Vase geschenkt bekommen, die er mit in den Urlaub genommen hatte, jedenfalls schrieb er in dem Brief:
„Um die Vase, die ich von Dir habe, muß ich manchmal mit Christl kämpfen, der dreijährigen Tochter unseres Wirts, einer jener kleinen, blonden, weißhäutigen, rotwangigen Blumen, wie sie hier in allen Häusern wachsen. Wann sie zu mir kommt, immer will sie sie haben. Unter dem Vorwand, ein Vogelnest auf meinem Balkon ansehn zu wollen, drängt sie sich ein, kaum aber ist sie beim Tisch, streckt sie schon die Hand nach der Vase; sie macht nicht viele Umstände, erklärt nicht viel, wiederholt immer nur streng: die Vase! Die Vase!, und besteht auf ihrem guten Recht, denn da ihr die Welt gehört, warum nicht auch die Vase? Und die Vase fürchtet sich wohl vor der grausamen Kinderhand, aber sie muß sich nicht fürchten, ich werde sie immer verteidigen und niemals hergeben.“
Der weitere Lebensweg meiner Großmutter
Ich möchte es kurz machen: Nach der Volksschule in Müritz folgte das Lyzeum in Rostock. Nach der Mittleren Reife 1936/37 ein Jahr auf einem Mädchenpensionat in Marburg, wo sie Kochen, Haushaltsführung und Repräsentieren lernte. 1938 lernte sie auf einer St Lucia-Feier einen Medizinstudenten kennen, meinen Großvater, den sie nach einem kurzen Intermezzo mit einem anderen Medizinstudenten samt Ver- und Entlobung schließlich 1942 heiratete. Einwöchige Hochzeitsreise nach Berlin mit Bombenangriff. Zuvor, ebenfalls 1942, hatte mein Großvater sein medizinisches Staatsexamen abgelegt. Anfang 1943 absolvierte er in Stettin eine kurze Ausbildung zum Unterarzt und kam danach sofort an die russische Front. Im August 1943 Geburt meiner Mutter. Im Spätsommer letzter Heimaturlaub meines Großvaters. Im September 1944 russische Kriegsgefangenschaft, aus der er im Oktober 1948 entlassen wurde. Ende 1948 Flucht von Müritz über die Grenze bei Helmstedt, via Hannover nach Wiesbaden. 1949 Geburt einer zweiten Tochter. 1959 Erwerb eines Hauses in Wiesbaden-Biebrich. Arbeit in der gynäkologischen Praxis ihres Gatten.
Hobbies: Haustiere (2 Streifenhörnchen, 1 Nymphensittich, zuerst 2 Cockerspaniel, schließlich 1 Yorkshireterrier), Blumen, Briefmarken, Nähen, Reisen (vor allem 20mal in das selbe Hotel auf Gran Canaria), Tennis, Familie
Lieblingsfernsehserie: „Dallas"
Lieblingsopernarie: „Lache, Bajazzo“ von Leoncavallo
Lieblingssänger: Joseph Schmidt
Lieblingsschlager: m. W. "Griechischer Wein", "Strangers in the Night"
Lieblingspolitiker: Gerhard Stoltenberg
Lieblingszeitschrift: „Die Bunte“
Lieblingsprominente: Grazia Patrizia von Monaco
1984 starb meine Großmutter an einem Gehirntumor.
Von Franz Kafka hat sie zeitlebens nie etwas gelesen. Sie hat überhaupt nur sehr wenig gelesen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie irgendetwas mit dem Namen hätte verbinden können. Erst vier Jahre nach ihrem Tod veröffentlichte der Müritzer Heimatforscher Werner Timm im „Freibeuter“ Nr. 38 einen Artikel über Kafkas letzten Sommerurlaub, in dem er anhand von Kafkas Briefen rekonstruierte, daß Kafka in der Pension meines Urgroßvaters gewohnt haben und daß die dreijährige Tochter seines Wirts meine Großmutter gewesen sein muß.
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