Ich sitze im Zug auf Gleis 6, den Kopf gegen das Kopfpolster gelehnt. Ich habe Herzrasen von dem Brötchen, das eben mein grambedingtes Fasten beendet hat. Ich fühle mich sehr leicht. Fast nicht existent. Es ist äußerlich ein ruhiger Tag. Ein warmer Tag. Ein sonniger Ruhetag. Die Treppen zum Gleis nebenan kommt Wolfgang Rihm hochgestiegen, er schaut kurz auf die Anzeigetafel. Er ist grau. Das letzte Mal, als ich ihn hier in Karlsruhe sah, waren die runden Locken um seinen Kugelkopf noch braun gewesen. Jetzt sind sie dunkelgrau. Wie der Anzug, den er trägt. Die schwarze Abendgarderobe-Umhängetasche für den reisenden Künstler hängt neben einer weiteren kleinen über seiner linken Schulter, unter dem rechten Arm klemmt ein ganzer Stapel noch nicht gelesener Zeitungen. Dunkelgrau, schwarz und zeitungsweiß, seine Kleider, seine Accessoires, die ganze Erscheinung. Er schaut einen Moment mit seinen Kulleraugen aus dem Gesicht heraus, dreht sich einmal um sich selbst und geht dann Richtung Gleisende. Auf der Anzeigetafel steht: 12:07 München, hat ca. 10 min Verspätung.
Das Abteil füllt sich, ich fühle mich wie eine Abenddämmerung. Rihm ist verschwunden. Wo er vorhin stand, umarmt sich jetzt ein junges Paar, sie streichelt seinen Kopf, er lässt ihn hängen. Sie tröstet ihn, wie es scheint, in monotoner Beruhigungsfrequenz lässt sie ihre Handflächen seinen Hinterkopf herabgleiten. Wie können sich zwei trösten? Actus tragicus, Mensch du musst sterben. Wir müssen sterben. Am besten jetzt sofort. Bach, Berg, Brahms, Beethoven. Ich habe Beethoven einmal geliebt. Jetzt kann ich ihn nicht mehr lieben. Ich verachte ihn. Weil er einen Trost verheißt, den es nicht gibt.
12:09, der Zug rollt an in Richtung Süden. Wir fahren langsam vorbei an den Wartenden auf Gleis 7. Der Getröstete lacht schon wieder, aber das muss nichts heißen. Ich habe gestern auch viel gelacht. Wir haben schon gut Fahrt, da vorne stehen zwei dicke Männer in Anzug, die müssen wir noch passieren, dann sind wir auf freier Strecke.
Auf einer dunklen Bank, durch milchige Wartewände abgetrennt von allen anderen Menschen, sitzt aufrecht Wolfgang Rihm, die Hände im Schoß. Sein Blick dringt quer durch den fahrenden Zug, in dem ich sitze. Ich weiß nicht, ob ich jetzt Teil einer Meditation oder einer Langeweile geworden bin,
Lesezeichen