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Thema: Schmidinger, Walter (im Flugzeug)

  1. #1
    Member Avatar von Maedel
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    Schmidinger, Walter (im Flugzeug)

    Flug Wien-Berlin, wir sind mal wieder recht spät und werden separat gesetzt. Wir sind aber nicht die letzten Passagiere. Nach zehnminütigem Warten betreten eine jüngere Frau und ein älterer Herr gemeinsam die Maschine. Die Frau trägt ein beigefarbenes, mit roten Borten verziertes Cordkleid, das wie die 60er Jahre Version eines folkloristischen Marika-Rökk-Kostüms wirkt, dazu Gesundheitssandalen, ebenfalls in beige. Ihre ungewöhnliche Erscheinung wird unterstrichen durch die deutlich unrasierten Beine. Sie hält eine großformatige rote Lacktasche im Sportstil fest an ihren Körper gepresst. Anne Bennent setzt sich in die Reihe vor mich, holt eine Partitur aus der Tasche und beginnt sie ausführlich zu studieren.

    Ihr Begleiter ist groß, hager und sehr blass, geht zittrig und unsicher auf den Beinen und strahlt dabei eine Autorität aus, die alle Altersbeschwerden und Greisenhaftigkeit Lügen straft. Er ist ganz in schwarz gekleidet und hat sich trotz der hochsommerlichen Temperaturen einen langen schwarzen Wollschal mehrmals um den Hals geschlungen. Es ist Walter Schmidinger, der gerade in Berlin in der Wilson-Version von ‚Leonce und Lena‘ wunderbar verhuscht und österreichisch den König gab. Er setzt sich in die letzte Reihe an den Gang. Die schwarze Kleidung kontrastiert stark mit seiner fahlen Blässe, die seinem Gesicht etwas Durchscheinendes gibt. Die Haut wirkt trocken und zerknüllt, die Augen zeugen trotz ihrer blassblauen Färbung von einer tiefen inneren Energie. Er zittert leicht, als er sich vorsichtig in den Sessel niederlässt.

    Der Flug verläuft planmäßig. Nach dem kleinen, durchaus wohlschmeckenden Sandwich mit Käse und einem Gläschen Wein zieht es Herrn Schmidinger in die unbequeme Toilettenparzelle. Der Weg dorthin bereitet ihm wieder sichtbar Schwierigkeiten.

    Es vergehen Minuten um Minuten. Ein leises Klopfen aus dem hinteren Teil der Maschine. Niemand reagiert. Ich vertiefe mich in die Kundenzeitschrift der Austrian Airlines. Es klopft erneut. Ich drehe mich um. Es kommt von der Toilette. Leise ‚Hallo, hallo‘-Rufe ertönen von dort, es ist Schmidinger. Die alerte Flugbegleiterin ruft leise zurück: was denn passiert wäre, ob man ihm helfen könne. ‚Ich komme nicht hoch.‘ ist seine unsichere Antwort, einen dezenten Anflug von Panik in der Stimme, leicht verwienert. Die Flugbegleiterin bittet ihn, die Verriegelung zu lösen. Langsam schiebt sich die Besetzt-Anzeige in Richtung ‚grün‘. Gemeinsame Versuche, die Tür zu öffnen. Wir sind inzwischen zu dritt, nur Frauen, die behutsam-fürsorglich beratschlagen, wie dem Mann drinnen geholfen werden kann. Die Tür lässt sich nicht öffnen, nicht sanft, nicht mit etwas mehr Kraft und Druck. Er sitzt so, dass er den Faltmechanismus der Tür blockiert. Könne er vielleicht seine Beine zur Seite bewegen? Von innen hört man vorsichtiges Geraschel und leises Ächzen. Irgendetwas geht dort vor sich. Wir versuchen wieder mit vereinten Kräfte, die Tür zu öffnen. Es klappt immer noch nicht. „Moment, Moment!“ tönt es leise und doch energisch von innen. Es raschelt erneut, während die Durchsage zur Landeankündigung ertönt. Im Gesicht der Flugbegleiterin zeigt sich eine gewisse drängende Unruhe. Von innen: „So, versuchens nochmal.“ Die leise Stimme durchzieht etwas Energisches, die Tendenz zum Dialekt verkündet joviale Bestimmtheit. Wir drücken und schieben, versuchen es sanft und wieder kräftiger, drinnen verstärken sich die Raschelgeräusche. Ein leichtes „Au“ lässt uns nur kurzfristig stoppen, es geht, die Tür bewegt sich, öffnet sich immer weiter und fältelt sich funktionsgemäß zusammen. Da sitzt er und lächelt, angestrengt, aber erleichtert, vollständig bekleidet und erschöpft. Die Situation ist überhaupt nicht peinlich, wir sind alle froh, dass wir es geschafft haben. Die Flugbegleiterin hilft ihm auf und führt ihn auf seinen Platz. Er ist sehr schwach. Die Landung beginnt. Anne Bennent studiert weiter ihre Partitur.

  2. #2
    Member Avatar von Caliste
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    ,
    Geändert von Caliste (19.04.2004 um 23:36 Uhr)

  3. #3
    Moderatorin
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    "Lulu" waer ggf. zwar passender zu hoeren jetzt, aber ansonsten stimme ich Caliste vollumfaenglich zu. Feine Prominentenbegnung, das!

  4. #4
    Avatar von Aporie
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    Nach all den Pissoirgeschichten endlich eine Flugzeugtoilette. Einmalige Begegnung, höflich paparazzt. Und als Zugabe Anne Bennent als runing gag. Bemerkenswert.

  5. #5
    [Member]
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    Jetzt kann ich mir den armen Kerl wohl nie mehr ansehen, ohne an diese Geschichte zu denken. (Ob er wohl souverän genug ist, sie jemanden zu erzählen ?)

    Trotzdem danke!

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