Freitag Abend im neuen kochenden Berlin, wo das Leben pulst wie man findet kaum Vergleichbares. Und mitten drin bildet sich zu sein ein: das Big Eden. Man hatte Marc Almond gewinnen können für einen Auftritt. Das Konzert begann um ein Uhr morgens und war kurz, aber ein Qualitätskonzert.
Auf der einen Seite der Bühne sind mehrere Reihen Tische mit festem Sitzmöbel herrund. Am vierten Tisch der dritten Reihe sass Neil Tennant. Neil Tennant ist der Sänger der Pet Shop Boys, also einer durchaus generationenprägenden Musikgruppe. Herr Tennant war nicht allein dort, sondern mit anderen mir unprominent erscheinenden Menschen. Zwei Herren um die Vierzig, der eine schwarz, der andere nicht. Der „nicht“ sah auch nach nichts aus, der Schwarzhautfarbene sah aber aufs gelig gekräuselte Haar so aus wie Ricardo Tubbs aus Miami Vice.
Vor dem Konzert unterhielt sich Herr Tennant unangeregt mit verschiedenen passierenden Personen, die stets eine für Starunterhaltungen typische Pose einnahmen: sie beugten sich stehend zum sitzenden Tennant hin, suchten die Nähe, vermieden die Berührung und hofften doch darauf. Zwischendurch sprach Herr Tennant mit seinen Begleitern, hauptsächlich mit Tubbs. In der Gesprächsführung gab es deutliche motorische Unterschiede: sprach Tennant mit dem Weissen, dann geschah das beidseitig distanzwahrend mit aufrechtem Oberkörper und ohne Mimik oder Körpersprache. Anders bei den häufigen, kurzen Plaudereien – es werden Plaudereien gewesen sein, man lächelte und grinste – mit Tubbs. Beide beugten sich nach vorne, fast in der oben beschriebenen Art. Ich schloss, dass man sich gegenseitig verehrte.
Das Konzert fing an. Marc Almond kann hervorragend singen und tat es auch. Das Publikum erschien zahlreich, jedenfalls mir. Es war auch begeistert und stand von Anfang bis Ende des Konzertes im Halbkreis um die Bühne. Neil Tennant sass jedoch, zwar an einem leicht erhöhten Tisch, konnte aber Marc Almond durch die vielen Köpfe nicht direkt sehen. Also lehnte er sich stark zurück in die Sitzbank und schob den Kopf halbschräg nach hinten. Er sass dort auf eine Weise, wie Angestellte in Grossraumbüros sich auf dem Stuhl nach hinten lehnen und den Mittelgang hinunterblicken, wenn jemand etwas fallen lassen hat.
Von Zeit zu Zeit justierte er die Nackenposition nach, ohne seine halbschräg nach hinten gelehnte, in meinen Augen ebenso anstrengende wie ungesunde Sitzhaltung aufzugeben.
Wenn man sich das Konzert und die hundert stehenden Lehngründe wegdachte, dann hing Herr Tennant im abwaschbaren Polster wie ein krampfgeplagter Sportler und das sah komisch aus. Er gab seine seltsame Position nur auf, um zu trinken oder zu applaudieren. Er hatte ein Glas Rotwein bestellt, ganz simpel, ganz bescheiden. Ich ertappte mich bei der Erwartung einer Champagnerkübelbestellung mit mindestens fünf Flaschen, aber Herr Tennant trank während seines Aufenthalts von zweieinhalb Stunden nur anderthalb Gläser Rotwein.
Am meisten beeindruckt hat mich jedoch Herr Tennants Klatschverhalten. Zwischen den Liedern von Marc Almond jubelte die Menge, Herr Almond ist ein ganz Charismatischer, das muss man sagen.
Herr Tennant aber verzog gegen Ende der Songs fremdjubelumtost keine Mine, gab nur eben seine krampfsitzige Lehnposition auf, sammelte sich kurz, fünf, sechs Sekunden, und begann dann mit dem Klatschvorgang. Der Tennantsche Klatschvorgang ist kein einfacher; man könnte ihn am ehesten als Intellektuellen-Notklatschen bezeichnen. Auf den Kongressen und Lesungen, die Gebildete veranstalten, wird lieber geklopft. Wenn jemand wahre Begeisterung ausdrücken möchte, ruft er italienorientiertes Zustimmungsvokabular wie bravo.
Tennant wollte aber klatschen, er hat sich dazu durchgerungen, jedes einzelne Mal. Daher die Pause, er musste wohl erst überlegen, ob er jetzt wirklich klatschen möchte. Er tat es dann auch nach jedem Song. Dazu bildete er mit der rechten Hand eine Sichelform, wie sie Kinder beim Trinken aus dem Wasserhahn verwenden. Während des etwa halbminütigen Klatschvorgangs bewegte sich die rechte Hand keinen Zentimeter. Sie blieb vor dem Brustkorb erhoben in der Luft und bot nichts als unerschütterlichen Widerstand gegen die Linke. Eben diese Linke aber war ungleich neckischer als die starre, ja felshaft stehende Rechte, sie schnitt fahrig durch die Luft, hin und her, und traf auf der einen Seite immer die Sichelrechte. Nicht mit voller Fläche, sondern stets nur mit den Fingerspitzen, ganz klar: dieses Klatschen diente nicht der Lauterzeugung. Im zeitlich letzten Drittel eines Tennantschen Klatschvorgangs wurde die Linke langsamer und auch unregelmässiger. Schliesslich verharrte sie sogar in vollkommen erhobener Position, wie um sich zu entscheiden, ob noch ein paar Klatscher angebracht seien. Manchmal waren sie angebracht, und die Fahriglinke schwang noch mal auf die kindertrinksichelförmige Starrrechte. Wenn das Klatschen jedoch sein Ende gefunden hatte, dann fiel die Linke von der höchsten Position hinab aufs Polster wie eine abgeschnittene Marionettenhand.
Im Ganzen betrachtet wirkte die Zustimmung des Herrn Tennant nicht lebendig begeistert, sondern kontrolliert. Wäre die Gemütslage von Neil Tennant eine Plenumsversammlung, dann hätte im Protokoll gestanden: Bei der geheimen Abstimmung für die Aufnahme der Begeisterung in unsere Reihen gab es nach einer ungültigen Abstimmung schliesslich elf Ja-Stimmen, vier Nein-Stimmen bei fünf Enthaltungen und vier ungültigen Stimmen. Die Begeisterung ist damit unter Vorbehalt probeweise aufgenommen.
Herr Tennant ging schliesslich ebenso wie er kam, nämlich ohne dass ich es bemerkt hätte. Auf dem Heimweg habe ich noch mal probiert, das Tennantsche Klatschen zu klatschen, aber ich scheiterte schon daran, meine Rechte trinksichlig starr zu halten.
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