Kolumnenunterricht in der Hamburger Schule
Wo war ich vorher gewesen? In der 1-Uhr-Spätvorstellung von „Indien“ im Kino auf der Reeperbahn? Vielleicht im Mojoclub oder doch in einem dieser zu Lounges umfunktionierten plüschigen Ex-Bordelle, in denen sie damals am liebsten TripHop spielten und Parisiennes rauchten?
Ich weiß es nicht mehr.
Ich weiß aber, dass es im März 1995 gewesen sein muss, als ich nachts vom Hamburger Millerntor über die Budapester Straße in Richtung Altona schritt. Den Reißverschluss des Anoraks hatte ich bis zum Kinn hoch gezogen, denn es wehte ein kalter Wind. Um so wichtiger, sich ein kleines Feuerchen zu machen: Also kramte ich das weiche türkisfarbene Päckchen aus der Anoraktasche und zündete mir eine Zigarette an. P&S hieß die Marke, die ich rauchte. Und ich war nicht der Einzige, denn es war die Marke der Stunde: Ich erinnere mich, dass unten am Hafen im Golden Pudel Club, wo man damals unbedingt hingehen musste, gleich zwei Fächer des Zigarettenautomatens die türkisen P&S-Softpacks von John Player beinhalteten.
Mein Weg war nicht mehr weit, das Ziel lag nämlich schon direkt vor mir, linker Hand: Es war ein abrissreifes Haus, durch dessen Fenster ein schwaches Licht auf die Straße fiel. Das war Heinz Karmers Tanzcafé, und wer das nicht gewusst hätte, hätte es an den popmusikalischen Lo-Fi-Klangschwaden erkannt, die mich jetzt aus dieser Richtung anwehten.
Der Schuppen war verraucht und voll mit jungen Menschen. Zudem war er ziemlich voll gestellt mit Couchtischen und alten Sofas, die aussahen, als hätten sie schon mal verlassen an der Straße gestanden und auf ihre letzte Reise gewartet. Jetzt hingen Turnschuh-Mädchen tief in den Sofas, hielten braune Bierflaschen in den Händen und hatten ihre adidas- oder Puma-Umhängetasche neben sich auf die Sofalehne gestellt. Zwischen den Sperrmüllmöbeln sprangen viele junge Männer mit halblangen Haaren, schwarzen Hornbrillen, Cordhosen und Trainingsjacken beziehungsweise, ganz nach persönlichem Temperaturempfinden, Anoraks rum: Heinz Karmers Tanzcafé war Pausenhof und Raucherecke der Hamburger Schule.
Ich war 21 und fand es super hier, war dieser Stil doch nicht nur überaus angesagt, sondern entsprach auch meinem Lebensgefühl: Biografischer Rhythmus und Lauf der Zeit waren für einen Moment kongruent. Sogleich holte ich mir an der Theke eine Flasche Astra-Pils, die, glaube ich, nur 1,50 oder 2 Mark kostete, und begann, durch den Laden zu streifen.
Ich traf niemanden, den ich kannte – was aber, da ich kaum jemanden in Hamburg kannte, auch sehr sehr unwahrscheinlich gewesen wäre. Ich stand also rum, nuckelte an meinem Astra-Pils und beobachte das Tanzcafé-Geschehen. Da hinten, in einer Ecke, da baute jetzt ein Typ, der wohl Anfang 20 war, sich aber bewusst angezogen hatte wie sein eigener Großvater in leicht derangiertem Zustand, inklusive Strickpullunder, Parka und fettigen Haaren, seine Bontempi-Orgel auf. Ohne Ansage legte er los und spielte für den Rest der Nacht Adaptionen von Beatles-Songs.
Aber da, ich erblickte einen einsamen Biertrinker von Statur, der sich gemächlich durch den Raum bewegte, da war ja jemand, den ich kannte! Yippie, da kam doch Max Goldt, der TITANIC-Kolumnist. Ich stand alleine rum – er stand alleine rum. Er unterhielt sich mit niemandem – ich unterhielt mich mit niemandem. Warum sollten wir eigentlich nicht...? Er fände es bestimmt unheimlich interessant, sich mit mir zu unterhalten, dachte ich, ja, er wäre gewiss entzückt über die Kurzweil, die dieser Unterhaltung entströmte.
Ich machte ein paar Schritte auf Max Goldt zu, und dann tat ich, was ich in jener Nacht zum einzigen Mal bis heute getan habe: Ich sprach den Prominenten an, und zwar nicht, weil es sich aus der Situation ergeben hätte und ich auch jeden anderen, Nicht-Prominenten angesprochen hätte, sondern eben nur, weil er dieser Prominente war.
Ich hatte mir auch schon einen spitzenmäßigen ersten Satz zurecht gelegt, und obwohl Herr Goldt fast doppelt so alt war wie ich, zögerte ich nicht, ihn zu duzen.
„Hi“, sagte ich also, „weißt Du, wo ich Dich zuletzt gesehen habe?“
Max Goldt brachte wohl ein „Hi“ noch heraus, konnte aber ansonsten nur den Kopf schütteln – verständlicherweise.
„In Kierspe“, fuhr ich fort, „vergangene Woche in Kierspe habe ich Dich gesehen, in der Aula der Gesamtschule: Ich war bei Deiner Lesung!“
Ja, an jenem Wochenende hatte ich im Sauerland, wo ich aufgewachsen und zur Schule gegangen war, geweilt und zusammen mit Freunden Goldts Lesung in Kierspe besucht.
„So, und jetzt bist Du also in Hamburg“, sagte Max Goldt zu mir.
„Ja“, sagte ich mit der ganzen Munter-, Gesprächig-, Hemmungslosig- und Auskunftsfreudigkeit des jungen Störenfriedes, der die Welt entdeckt, „ich mache gerade eine Praktikum bei HÖRZU!“
Ob ich glaubte, Herrn Goldt damit beeindrucken zu können? Ich weiß es nicht, aber hätte ich damals seine Bücher aufmerksamer gelesen, hätte ich gewusst, dass er für Periodika wie HÖRZU allenfalls den Sammelausdruck „Schundblätter“ übrig hatte.
Goldt konnte die Begeisterung über seine neueste, bei einem Springer-Schundblatt praktizierende Tanzcafébekanntschaft gerade noch zügeln, blickte aber neutral und höflich drein. Doch als ich ihm sagte, dass ich das Praktikum ja schließlich in der Hörfunkredaktion von HÖRZU absolvierte, welche die letzte Hörfunkredaktion in Deutschland und damit ein Hort von Sonderlingen und Feingeistern ist, da fand Max Goldt das schon besser und schmunzelte. Mit dieser letzten Auskunft wollte ich ihm wohl bedeuten, dass ich nicht wegen der Mainstreamhaftigkeit Springers sondern eben wegen der Abseitigkeit meiner Position bei HÖRZU arbeitete. Ich stellte also eine uns Ironikern und Durchblickern würdige Großgeister-Gesprächsebene her.
Aber warum sollten wir hier von mir reden, er war doch der berühmte TITANIC-Erfolgskolumnist und sollte mir etwas aus seinem aufregenden Kolumnistenleben erzählen! Außer einem Text für ein Gratis-Kinomonatsprogramm in Hagen und ein paar winzigen, anonym erscheinenden HÖRZU-Radiotagestipps hatte ich nichts veröffentlicht und war begierig zu erfahren, wie man als erfolgreicher Schriftsteller lebte. Besonders interessierten mich die technischen Details, und ich weiß nicht, wie ich ihn dazu brachte, aber in dieser Nacht in der Hamburger Schule lehrte mich Max Goldt die Grundlagen des Kolumnenwesens. Und hinten in der Ecke von Heinz Karmers Tanzcafé spielte der Bontempi-Mann „Let It Be“.
Doch ich blieb dran. Wir leerten ein ums andere Astra-Pils. Bestimmt bot ich Max Goldt eine P&S an, weiß aber nicht mehr, ob er sie nahm oder nicht. Ich weiß noch, wie erstaunt ich war zu erfahren, dass seine TITANIC-Kolumne vier Schreibmaschinenseiten lang sei, und dass er in der Regel ungefähr eine Woche brauche, um sie zu schreiben. Und dass er – ich interessierte mich wie gesagt für die Details – davon leben könne, von diesem einen veröffentlichten Text pro Monat.
¡Vafanculo, was war das für eine elegante Lösung!
Nur einen Text pro Monat schreiben und die restliche Zeit durch die Gegend spazieren, nachts alleine durch Heinz Karmers Tanzcafé und andere Modeschuppen der nichtsnutzigen Jugend strolchen. Bier trinken und vor sich hin schmunzeln und vielleicht mal, ab und zu, wenn er sich denn aufdrängt, einen hübschen kleinen Einfall im Notizbuch notieren: O wie schön war das Kolumnistenleben!
Wahrscheinlich fragte ich Max Goldt auch, was ihm die TITANIC für die Kolumne zahlte. Unwahrscheinlich, dass er darauf geantwortet hat. Ob er denn auch andere Kolumnen lese, fragte ich ihn. Nun, es gebe ja leider kaum welche, die er lesen könnte, wandte Goldt ein.
„Wie?“ fragte ich: „In den Zeitungen und Zeitschriften stehen doch ständig.... Was zum Beispiel ist denn mit Harry Rowohlts Kolumne in der ZEIT?“
„Die erscheint nur sehr unregelmäßig, das ist keine echte Kolumne“, sagte Max Goldt.
Er sprach mit der klugen, tiefen Onkelstimme zu mir, die man von seinen Lesungen kennt. Seine Lesestimme war also gar keine Lesestimme, sondern seine normale Stimme, seine Erklär- und Erläuter-Stimme vielleicht.
„Und Das Streiflicht in der SZ?“ fragte ich.
„Nein, nein“, ich bemerkte, wie der Sprach- und Geisteskritiker Schlegelscher Schule aus dem Kolumnisten (per definitionem Deutschlands einzigem, wie sich bald heraus stellen sollte) hervor brach, „Das Streiflicht erscheint anonym und wird von verschiedenen Autoren geschrieben. Das Streiflicht ist autorlos. Eine richtige Kolumne hat einen Autor!“
Womit wir auf dem Lehrplan bei den drei Merkmalen angekommen waren, die nach Goldt eine echte Kolumne ausmachen: „Erstens“, sagte er, „muss eine Kolumne regelmäßig erscheinen. Zweitens muss sie immer vom gleichen Autor geschrieben werden. Und drittens...“
Es gab eine Veränderung in seiner Tonlage, als käme er nun zu einem wirklich wichtigen Kriterium: „Drittens darf sie nicht redigiert werden. Niemals!“
Großartig! Strenge Regeln begeisterten mich seit jeher. Und zwar doppelt: Sie zu brechen fand ich genau so reizvoll wie sie zu befolgen. Aber dieser Typ, mit dem ich hier angetrunken bei Bontempi-Beatles-Klängen mitten in einem Abbruchhaus in St. Pauli stand, während Cordhosenträger und Kunstlederturntaschenträgerinnen an uns vorbei drängten, der befolgte seine Regeln wirklich. Man konnte es ja jeden Monat nachlesen. Oder...
„Haben sie bei der TITANIC Deine Kolumnen denn niemals redigiert?“ fragte ich.
„Sie haben’s mal versucht“, antwortete Max Goldt mit einem vielsagenden Clint-Eastwood-Blick.
„Aber gibt es denn dann in der Gegenwart überhaupt eine deutschsprachige Kolumne außer Deiner eigenen?“
„Ja, die gibt es“, sagte Max Goldt, „und sie ist zugleich meine Lieblingskolumne: Tele-Max. Sie erscheint täglich in der österreichischen NEUEN KRONEN ZEITUNG.“
Ich weiß nicht mehr, wie wir uns trennten. Vielleicht verabschiedete ich mich und ging nach Hause, vielleicht wurde Herrn Goldt meine Fragerei aber auch zu bunt, und er entschuldigte sich, weil er noch den Patron des Tanzcafés persönlich begrüßen müsse, jenen Heinz Karmer, der meines Wissens gar nicht existierte.
Irgendwann bricht sie halt ab, die Erinnerung.
Wieder in den Sinn kam mir diese Begegnung, als ich vor kurzem in der ZEIT eine große Portraitfotografie von Max Goldt erblickte und mein erster Gedanke war, dass er nun kein junger Mann mehr ist. Dabei wucherten seine Kolumnen heraus aus dem Treibhaus der Jugend und des Erwachsenwerdens in ein rosafarbenes Wolkenreich psychedelischer Spracherfahrung. Die Jugendkultur und die Popmusik diente diesen Kolumnen als Basis, die sie aber bereits von Beginn an altersweise reflektierten. Kein Wunder, dass Max Goldt irgendwann aufhören musste, Kolumnen zu schreiben. Während einer gewissen Lebens- und Sprachgefühlsphase hatte er in der Kolumne jedenfalls das ideale formale Prinzip für seine Prosa gefunden.
Wann immer heute das Wort auf das Wesen der Kolumne kommt, referiere ich – je nach Anlass laut oder still für mich, mal die Quelle nennend, mal sie verschweigend – die drei goldenen Kolumnenkriterien, die mich Max Goldt in einer Märznacht lehrte, einst in der Hamburger Schule.
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