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Thema: Rehhagel, Otto: Der Trainer probt mit uns "Hamlet" in einem Café

  1. #1
    MaybachMember
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    Rehhagel, Otto: Der Trainer probt mit uns "Hamlet" in einem Café

    Eigentlich fing es damit an, dass mein Kumpel Frank seine Schauspielrollen immer mehr in der Öffentlichkeit verkostprobte. Verkörperte er in einem Stück zufällig einen Penner, konnte man sicher sein, dass Frank auf der nächsten Fete ungewaschen erscheint, mit völlig zerzaustem Haar und wirrem Blick. Im Lauf des Abends würde mein Wohnzimmer dann zur Bühne werden, und viele Helden des Theaters würden in meiner bescheidenen Hütte auftreten. Auch wenn so mancher Mit-Partygast den Kopf schüttelte – Frank durfte das. Denn durch Frank habe ich Otto Rehhagel kennen gelernt – damals Trainer des 1. FC Kaiserslautern im Jahr nach dem Abstieg aus der 1. Liga

    Das war so: ich saß mit Frank eines Nachmittags in der Steinstraße im Café 15, meines Wissens nach die einzige Szenekneipe Deutschlands, die bereits 65 Minuten vor dem offiziellen Schließzeitpunkt keine Gäste mehr hereinlässt. Am Nachmittag ist das Café 15 aber durchaus erträglich, nicht zuletzt, weil dort ein handwerklich korrektes KöPi serviert wurde (nebenbei: kann mir mal jemand erzählen, warum der Begriff „gepflegtes Pils“ noch nicht bei Strafandrohung auf den Geschmacksindex gesetzt worden ist? Jupp selig im Gasthaus Bingert schrubbelte immer mit Babywatte über die vortrefflich gefüllten, aber lausig gespülten Gläser. Das Pils sah immer so aus, als hätte ein Nikolaus mit massivem Haarausfall schon mal dran genippt. Diese Horror-Gläser wurden dann nicht ohne Verzicht auf den wertvollen Hinweis „Ein gepflegtes Pils“ serviert).

    Jene Nachmittagsbiere hatten zwei unschätzbare Vorteile: zum einen wurde man ganz sanft in einen Zustand verhaltenen Trunkenseins befördert, zum anderen kam man als Tageslichtsäufer nicht als Opfer in Frage für jene geschiedenen Jungmütter, die im Café 15 Jagd auf solvente Solomänner mit Tagesfreizeit machten. Zu unsolide.

    An einem milden Mittwochnachmittag wurde unser Sauf-Colloquium durch die Anwesenheit des heimlichen Herrschers der Stadt aufgewertet: Otto Rehhagel ließ sich wenige Minuten nach unserer Ankunft an dem hintersten Tisch nieder, knappe 2 Meter Luftlinie von uns entfernt. „Nkaffee“, erging Bestellung. König Otto begann dann mit einem höchst ausgefeilten Ritual: mit sicheren Fingern platzierte er auf dem Kaffeelöffel ein Stück Würfelzucker und senkte den Löffel dann langsam und gleichmäßig jeweils soweit ab, dass der Kaffee den oberen Rand des Zuckerwürfels gerade so bedeckte. Dann bewegte Rehhagel den Zuckerfahrstuhl wieder nach oben. Er fixierte das Zuckerstück ernst und gelassen. Nachdem der Kaffeelöffel die Flüssigkeit ca. fünf Mal penetriert hatte, zeigten die Kanten des Zuckerwürfels erste Auflösungserscheinungen, und ein versonnenes, stillvergnügtes Lächeln breitete sich auf Ottos Gesicht aus. Vermutlich dachte er beim Anblick der erodierten Materie an das Mittelfeld von Bayer Leverkusen oder das Nasenbein von Oliver Kahn. Nachdem der Zucker völlig aufgelöst war, hielt Rehhagel kurz inne und begann, das beigegebene Stück Teegebäck an diversen Stellen des Untertellers zu platzieren: erst ganz rechts, bei 3 Uhr also, dann bei 8 Uhr, schließlich bei 2 Uhr. Die letzte Positionsveränderung habe ich leider nicht erkennen können, weil mir eine Schürzennatascha ein weiteres Bier servierte. Was machte der da? Geheime Zahlenbotschaften? Tresorcodes? Vielleicht habe ich mich durch diese Unaufmerksamkeit um die Chance gebracht, Kenntnis von Rehhagels ec-Karten-Geheimzahl zu erlangen, wer weiß das schon?

    Frank fühlte sich offenbar vernachlässigt und tat das, was er damals immer tat, um meine Aufmerksamkeit wiederzugewinnen: er zitierte lautstark den Beginn von Rilkes „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. Erst wanderte sein Blick nach schräg links zur Decke, so als würde er die wehmütige Erinnerung an eine verflossene Kurtisane wachrufen, und dann schleuderte er mir mit bebenden Nasenflügeln und geschlossenen Augen entgegen: „Reiten, reiten, reiten“. Sichtlich pikiert rutschte die Solo-Mama am Nachbartisch von uns weg. „Durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag.“ Otto wandte sich von seiner Teegebäck-Kabbalistik ab und blickte aus den Augenwinkeln zu uns herüber. „Reiten, reiten, reiten.“ Dann mit offenen Augen: „Und der Mut“ – Pause – „ist so müüüüüüde geworden und die Sehnsucht so groß.“ Stimme fahl werden lassen, zu Boden blicken „Es gibt keine Berge mehr, kaum einen Baum.“ Frank fixierte den Kuchenturm. „Nichts wagt aufzustehen.“ Genau das tat Otto in diesem Moment, und kam an unseren Tisch geschlendert. Unvergleichliche Beinführung! „Fremde Hütten hocken durstig an versumpften Brunnen“. Höhö! Versumpft, wie wahr!

    „Entschuldigung, darf ich Sie was fragen?“, ließ sich Rehhagel mit einer erstaunlich leisen Schüchternheit hören. „Sind Sie vom Theater?“ Aber ja doch, beschied Frank knapp ob der Störung. „Ich hab’s ja auch mit der Kultur“, gab sich Rehhagel als Musengeküsster zu erkennen. Wir feierten die Ankunft des Fußballtrainers an unserem Tisch mit verhaltener Frenetik und nahmen einen KöPi-Schluck. Soso. Hm. „Ah ja, und das mit dem Sprechen und so, das haben Sie richtig gelernt?“ Jau. „Ich sag ja ganz oft Goethe-Sachen und so. Die Klassiker, die sind schon wichtig.“ Klaro, sagte Frank, das kann nicht schaden, auch in der Fußball-Branche eine gewisse Kultur-Dosis verinnerlicht zu haben. Auf dem Platz ginge es ja auch oft um Sein oder Nichtsein. „Ah, Hamlet“, lächelte der Meister mit Kennermine: „Sein oder Nichtsein – DAS ist hier die Fraaage!“ Mit keck hochgezogenen Augenbrauen hielt Rehhagel erwartungsvoll inne. Vermutlich wartete er auf Lob angesichts dieser geglückten Identifizierungsleistung.

    Aber: auf Franks Gesicht machte sich ein Anflug von schmerzhafter Verstörung breit. „Neiiiiiiin“, sagte er flehend, „das geht doch anders! Das ist nicht hinter dem Wort >Frage< zu Ende, das Zitat. Machen Sie’s doch mal so: >Sein oder Nichtsein? – Das ist hier die Frage, ob’s edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden, - oder (?!), sich waffnend gegen einen See von Plagen, durch Widerstand sie enden<“.

    Rehhagel war beeindruckt. „Wie, nochmal?“, fragte Otto mit heiserer Stimme.

    „Sie können’s auch so machen“, meinte Frank: „>Sein! - Oder Nichtsein! – Das ist hier die Frage: ob’s edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden. Oder: sich waffnend gegen einen See von Plagen, durch Widerstand sie enden!<“.

    Ottos Begeisterung mündete in wildes Mundwinkelzucken. „Sein oder Nichtsein!!! Das ist hier die Fraaage!!! Obs edler im Gemüüüt!!! – Wie geht’s nochmal weiter?“

    Frank war mit den Leistungen seines prominenten Eleven keineswegs zufrieden. „Neee, mehr fließen lassen, Herr Rehhagel!“. Mittlerweile schauten alle Cafégäste gebannt zu uns hin. „>Sein?! - Oder Nichtsein?! – Das ist hier die Frage: ob’s edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden!<“.

    Otto: „>Sein! Oder Nichtsein!!! Das ist hier die Fraaage!!! Obs edler im Gemüüüt!!!< Besser?“.

    „Nicht schlecht, aber Sie sollten noch ein wenig üben“, so Frank in Gönner-Manier. Rehhagel fixierte seine Kaffeetasse und murmelte halblaut den Beginn des Monologs vor sich hin, immer und immer wieder.

    Dann hat er unsere Getränke gezahlt und uns „zwei gute Karten“ für ein FCK-Spiel versprochen. Die kamen dann auch zwei Tage später. Das Spiel war an einem Montagabend, FCK gegen Waldhof Mannheim, und ich zog mir mein kariertes Sakko und meine DAKS-Krawatte an, was meine damalige Partnerin zu Zweifeln an meiner Abendgestaltung herausforderte – im Sakko geht man doch nicht zum Fußballplatz! Ich wollte jedenfalls nicht, dass Fritz Walter einen Herzinfarkt bekommt, nur weil ich meine alte, löchrige Jeans anhabe, und bestand auf dem Edel-Look. Gepflegte Kleidung kann doch nichts schaden, und wer weiß – vielleicht sitzen wir ja neben Ministerpräsident Kurt Beck? Die Sorge war jedoch unbegründet, denn Kurt Beck saß vier Reihen hinter uns. Dafür wurden wir mehrfach in Großaufnahme im Fernsehen gezeigt (das Spiel wurde live vom DSF übertragen), und am nächsten Tag schenkte mir der Gemüseverkäufer auf dem Markt einen Strauß Petersilie, weil ich im Fernsehen war. Ich habe dann mehrfach das ansonsten von mir gemiedene „Aktuelle Sportstudio“ im ZDF angeschaut, wenn Otto Rehhagel eingeladen war, aber er hat mir nie den Gefallen getan und die Fernsehrepublik mit den Ergebnissen von Franks kleinem Coaching erfreut: „Sein oder Nichtsein!!! Das ist hier die Fraaage!!! Obs edler im Gemüüüt!!!“
    Geändert von Valmont (28.03.2003 um 20:16 Uhr)
    Ich hab noch am Raumschiff zu tun

  2. #2
    Embedded Senator Avatar von DerCaptain
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    VOR-BILD-LICH!
    Und dazu hochkomisch und wirklich mal was Neues.
    Sehr fein.
    Schmidtchen, lesen!!!

    Digital Immigrant

  3. #3
    Moderator Avatar von DonDahlmann
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    Aber Hallo!

  4. #4
    Member Avatar von Sabeta
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    ich habe das ja gleich geahnt. valmont rult, wie man damals hier zu sagen pflegte.

  5. #5

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    Wunderbar!

  6. #6
    Moderator Avatar von rron
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    Beim nächsten Mal bitte direkt in den Digest schreiben.

  7. #7
    Avatar von Klingeltonk
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    Perfekt. Aber das haben ja auch schon die anderen gesagt.

  8. #8
    Embedded Senator Avatar von DerCaptain
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  9. #9
    Embedded Senator Avatar von DerCaptain
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    Da tun sich ja Abgründe auf:

    Xzeit: Das Bild des Theaterintendanten Pierwoß im Werder-Trikot neben dem Trainer Otto Rehagel im Frack ging nicht nur durch die Medien, sondern brachte Theater und Fußball auf bislang einmalige Weise zusammen. Haben Sie noch regelmäßig Kontakt zu Otto?

    Pierwoß: Es gibt nach wie vor freundschaftliche Kontakte. Ich habe ihn in der letzten Spielzeit oft in Kaiserslautern besucht und war Gast beim Championsleague-Spiel gegen Benlica Lissabon. Jetzt muss ich sehen, ob in dieser Spielzeit die Zeit für einen Besuch reicht. Ich hoffe aber, dass wir uns bei nächster Gelegenheit auch mal wieder in Bremen sehen werden.

    Digital Immigrant

  10. #10
    Camembert Avatar von Edding Kaiser
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    Otto Rehagel ist übrigens auch ein Duzfreund von Johan Kresnik, also in der Welt des Tanzes ebenfalls ein Auskenner vor dem Herrn. Das nächste Mal, Valmont, wenn Sie ihn treffen, bringen Sie und Ihr Kumpel ihm doch ein paar neue Schrittfolgen bei. Tun Sie mir die Liebe? Das wird eine Geschichte mindestens so schön wie diese. Und diese ist schon verdammt schön.
    Geändert von Edding Kaiser (19.04.2002 um 15:21 Uhr)

  11. #11

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    Otto Rehagel hatte - zu seinen Münchener Zeiten, glaube ich - an seinem Haus ein Klingelschild mit dem Namen "Rembrandt".

    Christoph Daum war mal im Sportstudio und hat da seine selbst gemalten Bilder gezeigt, die unfassbar grauenvoll waren.
    Er könne dabei wunderbar entspannen. Aha.

  12. #12
    Embedded Senator Avatar von DerCaptain
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    Hab nun ach...

    Digital Immigrant

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