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Thema: Jürgens, Udo (ist kleiner als im Fernsehen)

  1. #1
    Avatar von Klaus Caesar
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    Jürgens, Udo (ist kleiner als im Fernsehen)

    Viele hätten einiges dafür gegeben, mit mir zu tauschen. Und ich hätte freudigen Herzens mit ihnen getauscht, auch wenn sie mir nichts dafür gegeben hätten. Aber niemand entrinnt dem ihm allein zugedachten Schicksal, und dem meinigen hat es einmal mehr gefallen, mir einen perfiden Streich zu spielen. Diesmal in Form eines eingeschriebenen Briefes, demzufolge ich mich dannunddann daundda im Berliner Dingenskirchenkonzertgebäude einzufinden habe, weil Udo Jürgens einen Abend mit mir verbringen wolle. Was sollte das denn nun wieder? Ist das Leben nicht hart genug? Kann der sich nicht mit jemand anderen treffen, wenn ihm langweilig ist? Warum immer ich? Was habe ich bloß getan? Nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, fiel mir wieder ein, was ich getan habe: Ich habe an einem Preisausschreiben teilgenommen. Und war daher quasi zugegebenermaßen ei freilich nun wohl irgendwie auch naja da beißt die Maus kein Faden ab sagen wir ruhig: selber schuld.

    (Regieanweisung: Rückblende. Bild verschwimmen und Rückblendenmusik wabern lassen. Danke.) In den frühen neunziger Jahren gab es auf der Internationalen Funkausstellung ein geharnischt kniffliges, ja nachgerade sphinxhaft unergründliches Rätsel zu knacken, das ging so: „Welches ‘Netz’ verbindet Computer in aller Welt? Lösung: *N*ER**T" Zu gewinnen gab’s, sofern ich mich recht entsinne, 11 PCs, 33 HiFi-Anlagen und 333 CDs von Matthias Reim. Das Schlimmste, was mich bei Teilnahme erwarten konnte, war also, geschmacklose Gastgeschenke für die nächsten 333 Partys vorrätig zu haben. Hochmotiviert machte ich mich an die Arbeit. Ich muß einräumen, daß ich zu jener Zeit noch nicht der Technikfreak war, als den mich heute alle Welt bewundert. Ich lebte damals in einer Ökokommune, wo wir uns zu progressiv fühlten, um einen Computer zu besitzen.

    Nach sorgfältiger Überlegung und intensiver Tüftelei hatte ich drei Lösungsmöglichkeiten gefunden: ANKERSET, KNIEROST und INTERNAT. Alle drei kamen mir gleichermaßen plausibel vor. Wenn ein Kapitän irgendwo auf der Welt sein Schiff anhalten will, zum Beispiel um Computer auszuladen und miteinander zu verbinden, dann greift er zu seinem Ankerset, bestehend aus größeren und kleineren Ankern, und nimmt einen passenden aus dem Netz. Ganz logisch. Knierost ist, wie jeder weiß, der volkstümliche Ausdruck für Arthritis. Das Netzwerk der Arthritisgeschädigten richtet weltweite Treffen aus, bei denen die Kranken ihre Knie verbinden und, wenn noch Verbandszeug übrig ist, auch noch ihre Computer. Völliger Quatsch natürlich, auch medizinisch gesehen, aber Arthritiker sind eh nicht ganz gesund. Knierost also, warum nicht? Und Internat... Internat... bestimmt gibt’s schon Internate für Computer, zumindest in den USA, da gibt’s ja eh alles. Über meinem Sinnieren und Knobeln war es Abend geworden, eine Lautsprecherdurchsage schallte durch die Halle: „Die Ausstellung schließt in fünf Minuten, bitte kommen Sie sofort zum Ausgang, Herr Zehrer." Ich schrie: „Sekunde noch!", füllte in aller Eile und wohl auch ziemlich undeutlich gleich drei Teilnahmekarten aus, um sicher zu gehen, daß die richtige Lösung dabei ist, und warf sie in die große Glasurne. Durch die Scheiben konnte ich sehen, daß die meisten Leute auf INTERNET tippten. Ich mußte schmunzeln: Die ließen sich alle von den Hunderten Fahnen, Schildern und Broschüren, auf denen dieses unsinnige Phantasiewort stand, hinters Licht führen. Im glücklichen Gefühl des sicheren Sieges fuhr ich nach Hause und wartete auf meine 33 Stereoanlagen. Sie trafen nie ein, stattdessen rund zwei Monate später erwähntes Einschreiben von wegen Tätää und Tusch, Sie haben einen der drei Hauptgewinne gewonnen, einen Abend mit Udo Jürgens. Au scheiße, stimmt, davon war ja auch noch die Rede! Ich hatte das leichtfertigerweise als vernachlässigbares Restrisiko eingestuft.

    Na ejal, wa, Fahrt und Hotel waren umsonst, ich also, warum ooch nich, wa, noch einmal rübajemacht nach Balin, mal eben hallo sagen zu meinem alten Freund Udo. Ich wurde von einer Medientante zu einer Künstlergarderobe geleitet, in welcher aber nicht Udo Jürgens saß, sondern im Gegenteil die beiden anderen glücklichen Hauptgewinner des Hauptgewinns, als da wären: Frau Gelbert oder Felbert, eine feiste Rentnerin und vorzügliche Quasselstrippe aus Mannheim, die den schönsten Tag ihres Lebens gekommen sah und sich entsprechend schick gemacht hatte: Siebzig Jahr, graues Haar, aber mit frischen Dauerwellen und Silbertönung, parfümiert wie das Lager einer Reinigungsmittelfabrik, das Gesicht dick zugepatzt mit Wimperntusche und Lippenstift, Perlenkette und ein Kleid, das mich an den hübschen Zweizeiler von Tucholsky erinnerte: „Sie trug ein bunt kariertes Kleid, mir tut mein Geld noch heute leid". Sowie Herr - na, laßt mich nicht lügen: Neumann glaubich, aus irgendeinem Kaff in Thüringen oder Sachsen, ein kleines, fahles Männchen, das älter aussah als es war, soviel war gewiß, auch wenn ich sein Alter nie erfuhr. Hätte Albrecht Dürer statt der Melancholie die Ödnis allegorisiert, dann hätte er mit Sicherheit Herrn Neumann in Kupfer gestochen. Das einzige dunkle Geheimnis, das Herr Neumann in seinem Busen barg, war, wie eine derart offenkundig taube Nuß so ein weißgott nicht anspruchsloses Rätsel lösen konnte.

    Die Medientante ließ uns in der Garderobe zurück, ohne irgendeinen Hinweis zur weiteren Abendgestaltung. Da saßen wir nun und warteten auf Udot und gerieten in einen Monolog über Frau Felberts oder Gelberts Lebenslauf, wie ihr die fiesen, habgierigen Polacken alles weggenommen haben und dann die Flucht aus Ostpreußen mit drei kleinen Kindern aufm Arm und dann die schlechte Zeit, 48 Stunden in der Fabrik, aber nie geklagt, nicht so wie die Mütter heute, die schon stöhnen, wenn sie zwischen Fitnessstudio und Tennisplatz ihr Kind aus der Schule quak quak quak quak. Herr Neumann rauchte blöde vor sich hin. Mir knurrte der Magen, denn ich hatte auf ein Abendessen spekuliert, schließlich waren wir für 18 Uhr bestellt, das Konzert begann um acht, dazwischen hätte man leicht fünf, sechs Gänge einbauen können. Aber nein, der Hauptgewinn bestand vorerst nur aus Frau Gelberts end- und haltlosem Geschmarre.

    So gegen zwanzig vor acht ging plötzlich die Tür auf, herein kam unsere „Betreuerin", ja und wer dackelte denn da hinterdrein? War er’s oder war er’s nicht? Ja, tatsächlich, er war’s: Udo, Idol meiner frühesten Kindheit, er, dem ich meine erste Begegnung mit moderner Rockmusik zu verdanken hatte („Aber bitte mit Sahne"). Müde wirkte er, kraftlos, seine knapp sechzig Jahre sah man ihm an. Er war, wie Herr Neumann später rattenscharf analysierte, „kleiner als im Fernsehen", trug eine schwarze Hose und ein weißes Baumwollhemd, das er nachher im Konzert durchzuschwitzen hatte, denn so verlangt es der Brauch. Seine richtige Umziehkajüte mit den Schminksachen und allem war nebenan, nun mußte er noch rasch vor dem Auftritt seine Pflicht absolvieren. Die Pflicht, das waren wir. Schwer ließ er sich in einen der Plastikstühle plumpsen. Die Betreuerin hielt eine kleine Rede etwa folgenden Inhalts: „Herr Jürgens, ich darf Ihnen die Gewinner des Saturn-Preisausschreibens vorstellen: Dieser sympathische, gutaussehende junge Mann ist Herr Zehrer, ein großes Talent mit goldener Zukunft, die aufgebrezelte Schnepfe heißt irgendwie Helbert oder Selbert und das da, diese lasche Kanaille mit der Kippe im Maul, das ist Herr - na, lassen Sie mich nicht lügen: Neumann oder so, aber das lohnt sich eh nicht zu merken. Merken Sie sich einfach Zehrer. So, Sie dürfen Herrn Jürgens jetzt Fragen stellen." Das war prima, denn ich hatte während der Zugfahrt einen knallharten Fragenkatalog ausgearbeitet: 1. Wie wird man eigentlich Schlagerstar? 2. Wie kommen Sie auf die Ideen für Ihre Lieder? 2. Hätten Sie als Prominenter nicht manchmal gerne ein bißchen mehr Privatsphäre? 3. Glauben Sie, daß Sie noch einmal einen solchen Superhit landen werden wie damals mit „Der Papa wird’s schon richten"? 4. Was sind Ihre Lieblingshobbies? 5. Spielen Sie ein Instrument? Da hätte Udo gleich gemerkt, daß ich mich intensiv auf die Begegnung vorbereitet und mir sehr persönliche Fragen ausgedacht hatte, und wir wären in einen tiefen, intimen Gedankenaustausch gekommen, er hätte mich zu sich nach Hause eingeladen, um das tolle Gespräch fortzuführen, mich ins Showbusiness eingeführt und später zu seinem Alleinerben erklärt.

    Ich muß leider den Konjunktiv verwenden, denn die olle Delbert sülzte gleich ungebremst los: Daß sie ihrem Mann zum sechsundsechzigsten Geburtstag die Schallplatte von den sechsundsechzig Jahren gekauft habe, Sie wissen schon, mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an (sie sang die Worte bzw. sprach sie rhythmisiert, dabei leicht mit der Handfläche auf den Tisch klopfend, um Udo Jürgens zu verdeutlichen, welches Lied sie meinte; er gab mit einer Handbewegung zu erkennen, daß er es durchaus schon einmal irgendwo gehört hatte), naja, wenig später sei er dann ja leider gestorben, Schlaganfall, seit 1951 ununterbrochen bei der BASF gearbeitet, nicht einen Tag krank, und dann grade mal zwei Jährchen in Rente und dann das, wo man sich doch so auf einen gemeinsamen Lebensabend gefreut habe, wissen Sie, wir waren nie auf Rosen gebettet, wir kommen ja aus Ostpreußen, haben alles verloren an die Polen, ist alles kaputt und runtergewirtschaftet da drüben, ich war gleich nach der Wende dort, ich sag Ihnen, das sieht aus da, schlimm, die Häuser, alles kaputt...

    Udo Jürgens stierte wie abwesend durch sie hindurch, warf nur hin und wieder ein stimmloses „Ah ja" oder alternierend ein „So?" ein, erhob sich nach ein paar Minuten ruckhaft (Frau *elbert war mitten im Satz, und zwar noch in ihrem ersten) und reichte uns allen, mechanisch lächelnd, matt eine schlaffe Hand. Es habe ihn sehr gefreut, uns kennenzulernen. Nun durften wir noch Erinnerungsfotos machen. Ich Depp hatte aber meine Kamera vergessen und Neumann, der ungleich größere Depp, versprach mir hoch und heilig Abzüge von seinem Film, die ich erwartungsgemäß nie bekam (sonst würde ich sie natürlich hier reinstellen). Dann wurden wir von der Medientante durch verschlungene Korridore an der Bühne vorbei in den Zuschauerraum gelotst, wo drei Plätze in der ersten Reihe für uns reserviert waren. Kaum hatten wir Platz genommen, die Ostpreußin schwärmte noch, was der Jürgens doch für ein netter Mensch sei, so richtig natürlich und überhaupt nicht wie man sich einen Star vorstellt, schon erschien derselbige live und original auf der Bühne. Er haute mit derartig vehementer Verve auf seinen Flügel ein und schwitzte so leidenschaftlich durch sein Oberhemd, daß ich mich fragte, welchen hochwirksamen Muntermacher er in den wenigen unbeobachteten Minuten eingeworfen haben mag. Die andere Frage, die mich im Verlauf der Darbietung beschäftigte: Warum macht der das? Ich meine nicht die Musik, sondern die Startreffs. Finanziell hat er es nun wirklich nicht nötig. Mir fiel nur eine einleuchtende Antwort ein: Er scheint darauf zu spekulieren, hin und wieder einen blutjungen, willigen Groupie zugelost zu bekommen. Da offenbar weder Herr Neumann noch ich, geschweige denn Frau Schwelbert seine diesbezüglichen Erwartungen erfüllen konnten, ließ er uns selbdritt im Nebenzimmer versauern und schaute nur, weil der Vertrag es zwingend vorsah, und der lumpigen zehntausend Mark Prämie wegen, mal kurz zu uns rein. So könnte es gewesen sein. Vielleicht war es aber auch ganz anders. Bestimmt sogar. Im Grunde ist Udo Jürgens nämlich ein ganz feiner Kerl, so richtig natürlich, obzwar etwas kleiner als im Fernsehen. Ich kenne ihn übrigens persönlich.

  2. #2
    Member Avatar von Zerebrum
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    Bemitleidenswerten Beruf den Sie da zu haben scheinen, Herr Caesar. Schade um die Fotos.

    Die Geschichte: Köstlich!
    Ich mußte sie in Mehl rollen, um die feuchte Stelle zu finden.



  3. #3
    Moderator Avatar von rron
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    Ein Meisterwerk, Herr Zehrer! Obwohl Udo sich, entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten, absolut sicher und richtig zu orientieren scheint.

    Warum haben Sie die Geschichte eigentlich nicht direkt in den Digest geschrieben?

  4. #4
    Embedded Senator Avatar von DerCaptain
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    Da saßen wir nun und warteten auf Udot
    Mein Lieblingssatz. Was sagt Anko dazu?

    Digital Immigrant

  5. #5
    Moderater Avatar von Tobi Wahn
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    Famos!


    Ich habe sehr über den Knierost gelacht und überhaupt ...

  6. #6
    Avatar von Klingeltonk
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    Und das hier, liebe Grundschüler, Novizen, Forumsreinschreiber, Poesiealbenabschließer, Bafögbezieher, Pisaverlierer, Abchecker und Erlebniserzähler, das ist hier ist die Nummer 1.

    Ein Schritt zurück bitte, dann können es alle sehen.

  7. #7
    Camembert Avatar von Edding Kaiser
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    Und das, nachdem ich tatsächlich gerade zurückkomme vom ersten Udo-Jürgens-Platte-Kauf meines Lebens. Tsiss.

  8. #8
    Avatar von Brotwurst
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    Herrlich! Preiset Klaus Caesar!
    Udo Juergens wollte sich vor mehr als 30 Jahren an meiner Mutter und meiner Tante (gleichzeitig) vergrabbeln. Aber ohne Erfolg zum Glueck, sonst ... nicht auszudenken ...

    gruebelnd ab

  9. #9
    Moderator Avatar von DonDahlmann
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    Grandios, Herr Cäsar. Vorbildlich.Sollte Anko als Plakat auf die Eingangstüren mit den Worten "Hier kommt nur der rein, der das da auswendig lernt" kleben.

  10. #10
    Avatar von klesk
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    löscht ihre eigene unhöfliche 2nd hand paparazzierung, bastelt einen lorbeerkranz für herrn zehrer
    Geändert von klesk (25.03.2002 um 16:05 Uhr)

  11. #11
    Moderator Avatar von DonDahlmann
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    @Brotwurst: Dann wärst Du reich, würdest in der Schweiz leben und auf Tobler würde Deine Privatorgien inszenieren.

  12. #12
    Member Avatar von Sabeta
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    letzten monat kam mir udo jürgens auf düsseldorfs angeberstrasse entgegen. ich fand ihn riesengross. er war sehr gut, heisst teuer, angezogen, also mit hellgrauem anzug, passender weste und leichtem übergangsmantel darüber. das einzige, was störte, war die alberne blaue technobilligbrille die er trug. niemand beachtete ihn, und er lief in riesenschritten davon.

    das ist natürlich nur ein fliegendreck gemessen an herrn caesars prächtiger geschichte.

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