Es ist schon viele Jahre her, allerdings auch nicht so lange, als daß ich mich nicht geschämt hätte, von meiner Mutter in den Adler-Modemarkt mitgenommen zu werden. Immerhin sagte ich mir: Klingelton, dir kann nichts passieren. Niemand, den du kennst, keiner, den du schätzt und schon gar nicht eine, die du verehrst, wird an diesem Donnerstagnachmittag oder überhaupt irgendwann im Adler-Modemarkt anwesend sein. Das ist für dich wie der Einsatz einer Terrorspezialtruppe mit Gesichtsstrümpfen: rein, alle erschießen, wieder raus, fertig.
Für diejenigen, denen Adler-Modemärkte kein unmittelbarer Begriff sind, möchte ich eine knappe Beschreibung einstreuseln: Adler als Klamotten-Aldi zu bezeichnen, trifft die Sache noch nicht ganz. Immerhin gibt es im Aldi eine Mandel-Rahm-Schokolade. In Adler-Märkten gibt es Kleidermarken, die heißen C.H.I.C.C., THEA 42+, ALPHORN, EAGLE und LADY BEXLEYS. Dort gibt es Sachen, die in „Jeansoptik“ und „Streifendessin“ auf ihre Kunden warten. Diese Kunden werden in Reisebussen mit volkstümlichen Cassetten aus dem Umland zum Adlermarkt gefahren und der Busfahrer hilft ihnen beim Aussteigen. Die Adler-Klamotten werden zusammengenäht in abgelegenen Gegenden Chinas, von kleinen flinken Tieren, die völlig unempfindlich gegen synthetische Materialien sind. Adler-Mode findet man auf den Kleiderständern der Internisten, die ihre Praxis im ersten Stock über dem Spielsalon Royal haben. Bei Vorlage der Adler-Kunden-Karte gibt es im Botanischen Garten halben Eintritt. Der Adler-Markt ist der Palast der Scheußlichkeit, ja.
Meine Mutter zwang mich, einige EAGLE-Jacken anzuprobieren, in denen ich aussah wie ein 50jähriger Frührentner, der in der Fußgängerzone zur Jugendarbeitslosigkeit interviewt wird. Immerhin blickte ich so bemitleidenswert aus der ADLER-Jacke, daß von einem Kauf abgesehen wurde. Ich dachte schon, daß ich das Gröbste überstanden hatte. Doch dann purzelten die Ereignisse übereinander. Dort, an der Rolltreppe, hinter den Lurexhosen mit Gummizug, da stand Petra und schaute sich gelangweilt um. Petra! In den Momenten höchster Gefahr schaltet das menschliche Gehirn auf den Instinkt, und der Instinkt ist dumm. Wenn ich eine Sekunde lang überlegt hätte, dann wäre mir klar gewesen, daß eine unverhoffte Begegnung im ADLER-Markt von beiden mit dem THEA-Mantel des Schweigens zugedeckt werden würde. Ich jedoch flüchtete. Die einzig mögliche Richtung war das ADLER-Restaurant. Die Panik machte mich blind. Vor allem aber machte sie mich taub, denn sonst hätte ich vorher gehört, daß die mir entgegenkommende Musik auffällig laut war. Ich hastete ins Restaurant. Einige Leute standen im Weg. Ich schob sie beiseite.
Gerade in diesen Momenten, in den Augenblicken höchster Gefahr, ist der Mensch auch in der Lage, sehr viele Eindrücke auf einmal wahrzunehmen. Ich stand auf einer Bühne. Vor mir stand Bata Illic. Im Zuschauerraum saßen Busreisegäste. Einige tranken Pilsbier. Einer schob gerade eine Schachtel Ernte 23 in die Brusttasche seines Polo-Hemdes. Das Hemd ist dottergelb, mit weißen Streifen. Die Frau neben ihm kippt Kondensmilch in ihre Tasse, aber das meiste daneben. Bata Illic schaut mich kurz an. Eigentlich über mich hinweg. Er zieht am Mikrofonkabel und dreht sich mit einem Schlagersängerschwung zur anderen Seite. Er singt weiter. Er trägt einen braunen Anzug. Der Flecken im Gesicht ist groß.
MIKKAEELA – AHAA.
Viele Lebensgefährdete leiden unter Gedächtnisstörungen und können nur Ungenaues darüber berichten, wie sie aus dem Autowrack im reißenden Fluß gezogen wurden. So geht es auch mir in dieser kleinen Geschichte. Ich würde noch gern einiges über Bata Illic berichten. Hat er das Kabel in einer lustigen Schlaufe um das Mikrophon getragen? Gab es viel Beifall, oder wenig? Hat er sich dazu verbeugt und Dankeschön gesagt? War eine richtige Band dabei? Backgroundsängerinnen mit dicker Augenschminke? Klang die Musik hinein in eine Aura des Niedergangs, von der Hitparade in den Adlermarkt? War es so etwas Spätzeitliches, ohne jede Hoffung und Wiederkehr? Ich müßte die Wahrhaftigkeit zu sehr strapazieren, um darüber noch Verläßliches zu erzählen. Als ich wieder das Bewußtsein erlangte, saßen wir im Auto auf dem Adlerparkplatz.
Keine gute Ware, sagte meine Mutter.
Nein, antwortete ich, echt nicht.
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