Es wird jetzt ein wenig unapetittlich und jenen Pappen mit Abendbrot vor dem Schirm empfehle ich die Lektüre nach dem Essen. Also, reden wir nicht lange drumherum:
Ein Haar hatte sich in meinem Hintern verkapselt, war nach innen gewachsen und drückte nun in Form einer daumengroßen Wucherung schmerzhaft gegen meinen Steiß. Der Arzt ermittelte das später mit Ultraschall. Da währte mein Leiden bereits vier Tage. Ein gemeiner, stechender Schmerz. Beim Sitzen, besonders beim Aufstehen, in manchen Positonen gar im Liegen. Ach, es war unschön.
Wir waren trotzdem in jenem November 2000 nach Berlin gefahren. Von einem mißratenen Haar wollte ich mir mein Wochenende nicht versauen lassen. Die Autofahrt von Hamburg aus verbrachte ich schief auf dem rechten Schenkel sitzend, ab und zu stöhnend und zunehmend übellaunig werdend. Trotzdem mimte ich gute Stimmung, weil die Mitreisenden so fröhlich waren.
In Berlin angekommen - beim verkrampften, unwürdigen und knapp gemeisterten Versuch, aus dem Auto zu steigen wurde mir heiß und kalt vor Schmerz - warteten bereits erste Zweifel vor dem Domizil der Freunde. War es eine gute Idee, ausgerechnet mit einem verwachsenen Haar im Hintern auf dem Parkettboden einer Wohnung im 16. Stock des Corbusierhauses in Charlottenburg auf einer Luftmatratze zu übernachten? Noch dazu auf einer solchen, der frühmorgens langsam pfeifend die Luft ausgehen sollte? Nein, es war keine gute Idee.
Der Schmerz erreichte am Sonntag eine Qualität, wie sie nur noch von Skip Zuckermann nachempfunden werden kann. Auf der Oranienburger Straße stand ich gebeugt wie ein Klappmesser, unfähig mich aufzurichten. Kurze Ahhs und Ohhs entfuhren stakkatohaft meiner Kehle. Die Leute schauten abschätzig bis erschreckt. Man machte Bogen um meine armselige Gestalt. Meine Freunde ließen auf gutgemeinte Besorgnis offene Lackattacken folgen.
Gedemütigt taperte ich hintendrein, leicht gebückt, Schweiß auf der Stirn, obwohl es an diesem Novembertag keine 5 Grad hatte. Die Museumsinsel war das Ziel, ich lief langsam die Monbijoustraße nach oben. Motorhomes säumten den Straßenrand dieser Sackgasse. Kurz blieb ich stehen, hielt mir den Steiß und begutachtete einen Catering-Wagen, dessen Seite aufgeklappt stand und den Blick auf dampfende Suppentöpfe freigab. Nanu, dachte ich.
Weiterhumpelnd, immer den Freunden nach, entdeckte ich an einem Motorhome den Computerausdruck 'Major Steve Arnold' an der Innenseite der Plastikscheibe haften.
Istvan Szabo drehte hier seinen Film 'Taking sides'. Die Vernehmung des Dirigenten Wilhelm Furtwängler durch die Alliierten nach dem 2. Weltkrieg. Und Harvey Keitel spielte den amerikanischen Offizier Steve Arnold.
Ich rief, benebelt vom pochenden Schmerz, die vorausgeeilten Freunde. 'Keitel dreht hier!' Und weil ich mich plötzlich beobachtet fühlte, drehte ich mich etwas zu schnell zur Seite. Ein Schmerzgewitter erschütterte meinen Körper, ich ging ächzend in die Klappmesser-Position zurück und Harvey Keitel mit einem Becher Kaffee, in einem langen dunklen Mantel, die Haare streng zurückgekämmt, beobachtete mich über die Straße hinweg auf dem Weg zu einem dunklen 600er Mercedes. Im Auto sitzend nippte er an seinem Kaffee und schaute mich an. Ein Blick, am ehesten vergleichbar mit dem, den man einem überfahrenen Tier auf der Autobahn zuwirft.
Ich griente doof, hob die Hand zu einem zaghaften Winken, sagte 'Hey Harv...', da fuhr der Wagen an, Harv winkte zurück und verschwand.
Gerne hätte ich ihm einiges erklärt.
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