Für die Freunde dezenter Geschichten habe ich eine winzigkleine, im Grunde nichtige Begebenheit zu erzählen, die sich vor sechs Jahren zugetragen hat. Aus einer eher unbedeutenden Stadt im Süden der Republik kommend, besuchte ich meinen großen Bruder in Berlin. Da mein Bruder tagsüber arbeitet, durfte ich selbst das Besuchsprogramm gestalten. Am dritten Tag hatte ich mir einen Museumsbesuch verordnet. Mit einem Fahrrad ausgestattet machte ich mich auf den Weg dorthin. Die Himmelsrichtung wusste ich so ungefähr und auch, dass ich den Tiergarten zu passieren hatte. Bei dem Versuch, ihn zu durchqueren fuhr ich allerdings mehrmals im Kreise, weiß der Himmel warum. Irgendwann hatte ich es aber geschafft. Im Museum war es ganz nett, ich trank noch irgendwo einen Kaffee und begab mich schließlich auf den Rückweg, wieder durch den Tiergarten. Ich also vorbei an der Siegessäule, hinein ins Grün, schöner Spätsommertag, ich schlürfe die Berliner Luft, leider ein bisschen ozonig, ich denke noch, na, wann mir wohl der erste Prominente begegnet, in Berlin trifft man doch unweigerlich jede Menge Berühmtheiten, ich denke also, wer begegnet mir jetzt wohl gleich, fahre extra langsam um auch ja keinen Prominenten zu verpassen, könnte ja sein, dass sich einer gerade hinter der Parkbank gebückt hat um etwas aufzuheben und erst wieder hochkommt, wenn ich schon vorbeigeflitzt bin, ich fahre also extra langsam, dabei aber möglichst einheimisch blickend, es soll ja nicht jeder wissen, dass ich Großstadt gaffe, bin also grade an der Siegessäule vorbei, WER kommt mir da entgegen? Natürlich, geht ja gar nicht anders, Bruno Ganz. Ich aus der Provinz, er aus dem Himmel über Berlin. Logisch. Ich fahre noch langsamer, wir kommen einander unausweichlich näher, irgendwann werde ich an ihm vorbeifahren müssen, ich denke noch, issers denn wirklich, so ein Zufall gibts doch gar nicht, aber er ist es offenkundig, Hände in den Manteltaschen, Aura um den textprallen Schädel, ich kann nicht langsamer fahren, jetzt muss auch er mich sehen, ich fahre an ihm vorbei, sehr sehr langsam, wie in Gedanken, und in diesem Moment muss ich all meine Konzentration zusammennehmen, was für ein Gesicht soll ich ihm zeigen? Wissend? Freudig erregt? Verschwörerisch? Mir ist das so peinlich! Von einem Prominenten beim paparazzen ertappt zu werden, dabei kann ich ja gar nichts dafür, ihm hier zu begegnen, schließlich ist das ein öffentlicher Park und keine VIP-Lounge und überhaupt, was denkt der sich, wer er ist. Ich fahre also sehr langsam an ihm vorbei, hebe den Blick und schaue ihm zwei Sekunden in die Augen. Freundlich, aber nicht zu freundlich. Eher so, als dächte ich gerade an etwas anderes, durchaus Angenehmes. Das gibt es ja manchmal, dass man an etwas sehr Schönes, Intimes denkt und dabei einen wildfremden Menschen anlächelt. Genauso schaue ich. Und frage mich, ob er meinen Gedanken wohl errät. Dann bin ich an ihm vorbei. Die Anspannung fällt von mir ab, ich atme tief durch. Ob er mir wohl nachschaut? Hat er mein Geheimnis erraten? In diesem Moment merke ich, wie die Zeitung, die ich auf dem Gepäckträger eingeklemmt hatte, sich löst und hinter mir auf den Weg fällt. Mein Gott wie unangenehm. Ich halte an und drehe mich um. Ich hatte mir fest vorgenommen mich NICHT mehr umzudrehen, wer bin ich denn, mich nach Prominenten umzudrehn, das hab ich doch nicht nötig. Ich dreh mich also um und sehe meine Zeitung auf dem Weg im Tiergarten liegen. Von Bruno Ganz keine Spur mehr. Wie ein Traum...un ange qui passe. Ein bisschen verlegen lese ich die Zeitung vom Boden auf und fahre grüblerisch zur Wohnung meines Bruders zurück. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher: war Bruno Ganz im Film beflügelt?
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