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Thema: Haffmans Verlag

  1. #1

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    Haffmans Verlag

    ABERRATIO ICTUS
    Oder: wie ich versuchte, den Haffmans Verlag zu erpressen

    Am 24. Januar 2003 sieht man einen jungen Mann mit hängendem Kopf im Züricher Theaterhaus Gessnerallee um die Kulissen kriechen. Er hat ein pinkes Nachthemd an, das einem Opfergewand der Inkas gleicht. Blutrot die Knie, in der Hand eine schlaffe Gummizwille. Flapp-flapp saust sie auf den eigenen Rücken nieder, schmerzende Schläge links und rechts auf die Schulterblätter verteilend. Die Geißel der Gerechtigkeit, sie schnalzt ihr ewig Lied.
    Eine düstere Litanei schallt über die Köpfe der konsternierten Zuschauer, gesungen von einem dreiköpfigen Chor: AAAA-BERRATIO IIII-CTUS, AAAA-BERRATIO IIII-CTUS.
    Langsam kriecht der junge Mann Richtung Hauptbühne, den Blick starr nach unten gerichtet. Dann hält er inne. Er wartet. Schweiß rinnt ihm über die Wange. Ein Saalwächter wird von dem Tropfenlicht geblendet und schaut irritiert auf die Uhr: „Halb elf, zu Hause wartet meine Überraschung“. Auch das Publikum wartet - auf eine Erklärung. Endlich löst sich eine Art Richterfigur aus dem Chor und verliest eine Anklageschrift. Der Angeklagte entschuldigt sich laut bei der Schweizer Eidgenossenschaft, kriecht weiter zu einer bereitgestellten Orgel, an der er sich mühsam aufrichtet, und hebt an zu singen:

    „Rot sind meine Knie
    rot wie meine Reue
    vergebt mir vergebt mir -
    ABERRATIO ICTUS“

    Dann reicht er dem Wortführer der Anklage ein Gummibein zum Zeichen seiner Sühne und der Abend nimmt kommentarlos seinen weiteren Lauf. Das traumatisch anmutende Happening wird von dem Publikum mit der üblichen Apathie hingenommen, hier und da von einem nervösen Augenzwinkern begleitet, das aber auch einer störenden Fruchtfliege gegolten haben könnte. Der Saalwächter holt sich was zu trinken.

    Was sollte das Ganze?
    Drehen wir die Uhr ein Stück zurück.

    Im Juli 2002 flatterte mir ein Schreiben der Hamburger Polizei ins Haus. Ich solle mich bei der Dienststelle soundso melden, wo ich auch gleich anrufe. Ein freundlicher Herr nimmt den Hörer ab, erkundigt sich nach Namen und Aktenzeichen und verschwindet dann für eine Minute pfeifend im Amtszimmer. Mein Kopf spielt Roulette, ich male mir aus, welche Ampeln ich übersehen haben könnte. Schon einmal war ich um 4 Uhr nachts in St.Pauli verhaltensauffällig geworden, weil ich als Fußgänger bei rot die Straße überquert hatte. In St. Pauli! Dem Sündenpfuhl, wo die Menschen wie Vieh über die Rampen der Verkehrswege und noch einiges andere steigen! Leider erwarteten mich auf der anderen Straßenseite zwei überarbeitete Beamte. „Stehenbleiben!“ Ich wollte aber nicht, denn ich war gerade „gut drauf“. Also quittierte ich den Befehl mit einem versöhnlichen Lacher und trabte unbeirrt weiter, dem Lauf der Dinge und Schusters Rappen folgend. Eine eisenharte Hand setzte meiner Reise ein jähes Ende. Ich blickte in die wutverzerrte Fratze der Staatsgewalt: „WAS GLAUBST DU WOHL WARUM ICH SAGE STEHENBLEIBEN ALSO HER MIT DEM AUSWEIS DU KRIEGST POST VON UNS DAS WIRD TEUER“. Und ich: „Haben Sie nichts besseres zu tun als Fußgängern nachzustellen? Vor meinem Fenster spielen betrunkene Bürger mit Pizzas Frisbee!“ --
    Ein Rascheln am anderen Ende der Leitung reisst mich aus meinen Erinnerungen. „Also, das ist ja ein ganz schöner Wälzer hier...was haben wir denn da...aha, Schweiz. (Pause) hmhm...na, das ist doch...haben Sie mal einen Brief in die Schweiz geschickt?“
    Ich höre, wie die Kugel im Rouletterad einrastet. Null, grün.
    „Ja, also...nee...“ Er unterbricht mich: „Na lassense mal, steht ja auch ihr Absender drauf. Sie brauchen jetzt keine Aussage zu machen. Das ist ja...hehehe...da haben Sie also wirklich...na, das ist ja ein dickes Ei...Junge, wie kannst Du nur so blöd sein und Deinen Absender darauf packen...na, da würd ich mir aber schnell einen guten Anwalt besorgen...lass mal lass mal, brauchst jetzt keine Aussage zu machen...“. So geht das eine ganze Weile. Zwischendurch werde ich gesiezt und dann wieder geduzt, der Ton wechselt von belustigt zu besorgt, von sachlich zu väterlich, durchgehend begleitet vom beunruhigenden Rascheln einer offenbar mannshohen Akte. Ich würde den Beamten gerne bitten, mir das Rascheln zu ersparen, aber die Hoffnung auf mildernde Umstände lähmt mein Mundwerk.

    Kurz darauf erhalte ich einen neuen Brief, diesmal vom Amstgericht Hamburg. Darin steht:

    „Strafbefehl gegen Herrn Jan Felix Kubinski.
    Sie werden beschuldigt, in Hamburg am 13.11.2001 versucht zu haben, einen Menschen rechtswidrig durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung zu nötigen, indem Sie in einem von Ihnen unter Ihrem Pseudonym „Felix Kubin“ verfassten Brief vom 13.11.2001 an den Haffmans Verlag in Zürich/Schweiz zu Händen des dort für Sie zuständigen Lektors Heiko Arntz wie folgt schrieben:

    ‚Herr Arntz! Ihr Leben ist keinen Pfeiferling mehr Wert! Sie haben sich soeben mit ANTHRAX infiziert. Aber ich habe ein GEGENMITTEL! Das rücke ich aber nur raus, wenn Sie mal mein Schreibehonorar in Höhe von DM 210,- bezahlen (Rabe Nr. 62, Hasenfuß). Mit freundlich-tödlichem Gruß Ihr Felix Kubin, P.S.: Ich habe Zeit ... Sie nicht’,

    um eine ausstehende Honorarzahlung zu erreichen. Diese erfolgte jedoch nicht, da der Brief – der tatsächlich nicht verseucht war – den Empfänger nicht erreichte, sondern im Rahmen eines am 31.10.2001 eröffneten Konkursverfahrens im Konkursamt Riesbach von dortigen Mitarbeitern bearbeitet wurde.

    Vergehen, strafbar gem. §§ 240 Abs. 1-3, 22, 23, 40, 42, 43 StGB“


    Was ich nicht ahnen konnte: als ich meinen kleinen Gangsterbrief an Heiko Arntz c/o Haffmans verschickt hatte, gab es gar keinen Haffmans Verlag mehr. Der feine Herr Haffmans war gerade dabei, die Autorenrechte seiner besten Schriftsteller an irgendeine dubiose Gestalt weiter zu vertickern und etliche Autoren kämpften bereits um ihre Urheberrechte. Der Verlag war pleite gegangen, alle wussten es. Nur ich nicht. Und jetzt war es passiert: Ich, Felix Kubinski, Sohn des Atomphysikers Joachim Kubinski, hatte versucht, den Schweizer Haffmans Verlag zu erpressen.

    Ohne Erfolg – aber mit grässlichen Folgen. Die deuteten sich bereits Ende November 2001 an, als ich von einer nächtlichen Eskapade in meine Wohnung zurückgekehrt war und meinen Anrufbeantworter abhörte. „Felix Kubinski, Du rufst mich sofort mal zurück.“
    Das war die Stimme die Stimme von Heiko Arntz, Lektor beim Haffmans Verlag und Betreuer der vierteljährlich erscheinenden Buchreihe „Der Rabe“.
    Warum war der so barsch? So kannte ich ihn gar nicht!
    „Ruf am besten auf meinem Handy an.“
    Handy?
    Mit mulmigem Gefühl tippte ich Heikos Nummer ein und erfuhr von den Folgen meines „kleinen Scherzes“. Das Gebäude des Haffmans Verlags sei komplett evakuiert und versiegelt worden. Feuerwehr und Polizei seien angerückt und hätten meinen Brief auf Verseuchung untersucht. Das Postgebäude sei ebenfalls vorrübergehend geschlossen, die Angestellten nach Hause geschickt worden. Man habe ihn, Heiko Arntz, zwei Stunden lang verhört.
    „Kennen Sie einen Felix Kubin?“
    „Ja, das habe ich Ihnen doch schon mehrfach gesagt.“
    „Erkennen Sie seine Schrift?“
    „Ja doch. Hinten steht doch sein Absender drauf.“
    „Wollen Sie gegen ihn Anzeige erstatten wegen versuchter Nötigung?“
    „Nein, natürlich nicht!“
    „Sie sehen also von einer Anzeige vorerst ab?“
    „Hören Sie, dieser Brief hier ist ein Scherz. Er war an mich persönlich adressiert.“
    „Sie kennen Herrn Kubin also PERSÖNLICH?“
    (usw.)

    Am Ende des Gesprächs einigten wir uns darauf, erstmal nichts zu unternehmen. Wir hofften, dass der Vorfall in irgendeiner Ecke des Schweizer Verwaltungswesens verwesen möge. Aber weit gefehlt.

    „Berlichingen*.“
    „Sind Sie Herr Rechtsanwalt Götz von Berlichingen?“
    „Ja, wo drückt der Schuh.“
    „Sie müssen mir helfen. Ich habe einen Scherzbrief an meinen Lektor Heiko Arntz geschickt, mit Anthrax und so. Den hat aber ein Konkursverwaltungsbeamter geöffnet, und der hat sich wohl sehr erschreckt.“
    „Soso. Und jetzt drehen die Schweizer hohl.“
    „Wie....? Tja...wahrscheinlich. Wie meinen Sie das?“
    Das war er also, mein Anwalt Albrecht Götz von Berlichingen. Ein großer Mann, für den es sich gelohnt hatte, straffällig geworden zu sein. Er erheiterte mich fortwährend mit skurrillen Fällen aus seiner Praxis und ich klagte ihm mein Leid, das sehr einfach gestrickt war: ich habe kein Geld, bin unschuldig und heiße Hase.
    Das Leid ging aber noch weiter: zu der Zeit war ich mit der Musik zu einem Theaterstück von Punkführer Schorsch Kamerun in Essen beschäftigt. Während in ganz Deutschland die Sonne schien, behielt sich Essen vor, zu regnen. Es regnete tags und es regnete nachts. Wir waren herrlich untergebracht in Stahlcontainern, direkt auf dem Industriegelände der Zeche Zollverein. Dort, im Zentrum des Weltkulturerbes, sollte das Stück aufgeführt werden. Um zu den Containern zu gelangen, musste man durch eine irrsinnige Schlammpfütze hindurchwaten. Oft wachten wir morgens um 9 Uhr auf, weil das Regenwasser in die Container hineingekrochen war. Schuhe schwammen wie Rettungsboote im Raum herum. Taschen, CD Player und Pullover konnten hingegen nicht schwimmen. Sie bildeten Inseln oder geheimnisvolle Unterwasserlandschaften. Nachts roch es nach Moder. Dazu hörte man ein Schaben und Krabbeln. Das kam natürlich von den Ratten, die sich auf den Containerdächern um Essensreste stritten. Ein Altpunk namens JENSEN, der Tätowierungen wie „Labskaus“ und ein paranoides Neanderthalergesicht durchs Abendland trug, fand es lustig, Hühnchenknochen und generell Dreck auf die Containerdächer zu werfen, als „Überraschung“ für später. Jensen hatte immer solche Ideen. Seine Bands nannte er „Fickfehler“, „Blumen am Arsch der Hölle“ oder einfach „Das Moor“. Bei der Abschlussfeier versprühte er solange „Pupsspray“, bis sich keiner mehr auf die Tanzfläche wagte.
    Als ich Anfang August 2002 nach der ersten Probenstaffel nach Hamburg zurückgekehrt war und mich wahnsinnig auf ein normales Bett ohne Wasser und nächtliches Schaben freute, musste ich feststellen, dass mein ganzes Zimmer von einer irrsinnigen Überschwemmung heimgesucht worden war. Den Anblick werde ich nie vergessen: Wände und Gegenstände waren von grün-orangem Schimmel überzogen, aufgeweichte Bücher hatten ganze Regale von der Wand gerissen, auf dem Boden lagen Myriaden verseuchter Schallplatten. Alles Stoffliche hatte ein Eigenleben entwickelt: das Bett, der Sessel, das Auftrittskostüm. Auf Computer und Musikanlage hatten sich rostige Pfützen gebildet. Es sah aus, als hätte jemand eine riesige Wasserbombe im Raum explodieren lassen. Danach hatte Poseidon 10 Tage lang Zeit, sein nasses Werk zu verrichten. Seine Wässrigkeit zog es aber vor, nur in meinem Zimmer zu wüten, alle anderen 4 Zimmer blieben unversehrt. Natürlich war auch der Strom ausgefallen, was mir erst klar wurde, als ich den Kühlschrank öffnete. Eine grüne matte Flauschigkeit begrüßte mich. Den Geruch überlasse ich der Phantasie der Leser. In meinem Zimmer waren ganze Pilze gewachsen, Tintenschwarzlinge oder so ähnlich. Wer’s nicht glaubt, wird selig, jedoch: es gibt Fotos.

    Dieses Leid also klagte ich Herrn von Berlichingen. Der nahm das gleich in seine Verteidigungsschrift mit auf: „Der Beschuldigte hat ein Schreiben abgeschickt, wobei er ersichtlich einen Scherz gegenüber Herrn Arntz äußern wollte. Der Beschuldigte ist freier Künstler mit einem sehr geringen Einkommen. Er wußte nicht, daß zu dem Zeitpunkt ein Konkursverfahren des Verlages eröffnet worden war mit Postsperre. (...) Zu allem Unglück kam auch noch hinzu, dass er gegenwärtig in Hamburg keine Bleibe hatte und hat, weil dort seine Wohnung unter Wasser stand. Er musste dort alles evakuieren und den Gesamtschaden auflisten, so dass er Schwierigkeiten hatte, mit uns in Kontakt zu treten.“

    Im Oktober 2002 kommt es zur Gerichtsverhandlung.
    Anwalt Götz von Berlichingen reist dazu extra aus Frankfurt nach Hamburg an. Ich soll ihn am Hauptbahnhof abholen. Da ich nicht weiß, ob wir uns in dem Gewühle zwischen Junkies und Verwirrten verpassen könnten, bitte ich ihn, sein Handy eingeschaltet zu lassen.
    Zum verabredeten Zeitpunkt erscheint kein von Berlichingen. Ich versuche mir vorzustellen, wie er aussehen könnte, spreche verschiedene seriös aussehende Herren an, die mich natürlich sofort für einen Stricher halten und mit angewidertem Gesicht vor mir zurückweichen. Andere fragen interessiert nach und verziehen sich dann schnell, als sie merken, dass ich KEIN Stricher bin.
    Herrgott, das kann doch wohl nicht angehen. Ich lasse nochmal meinen Blick umherschweifen. Ein Mütterchen, torkelnde Junkies, ein Eierdieb, ein paar pubertierende Mädchen auf obsoleten Buffaloplateauschuhen, ... Schließlich schnappe ich mir mein Mobiltelefon und wähl seine Nummer. „Zur Zeit nicht erreichbar“ signalisiert mir die Stimme. Na prima. Ich rufe in Berlichingens Büro an. Seine Vorzimmerdame nimmt ab. „Sagen Sie, wie sieht denn Herr von Berlichingen aus, ich kann ihn nicht finden.“ Sie beschreibt mir einen älteren hochgewachsenen Herrn mit halblangen Haaren. Jetzt bleibt mein Blick an einer Gestalt hängen, die ich nie für einen Anwalt gehalten hätte. „Sagen Sie, sind die Haare so ein bißchen strähnig? Und ist der Mann schlecht rasiert und hat eine lange Nase und einen hervorstehenden Zahn?“ Die Dame kichert verlegen. „Sieht der so etwas freakig aus? Mit Fitzelbart?“ Bejahendes Schweigen. Aha. DAS also ist er. Wir machen uns bekannt und gehen rüber ins Café Bodega Nagel. Während er mir von Raubkopien und Büchern über Drogen erzählt, schaue ich besorgt auf die Uhr. Die Zeit interessiert ihn nicht. Er erklärt mir, dass es sich in meinem Fall um eine ABERRATIO ICTUS handele, um einen „verfehlten Schlag“, denn ich wollte ja eigentlich Herrn Arntz bedrohen und nicht den Konkursverwaltungsbeamten. Und zack, da sei die Klinge abgerutscht und habe den Falschen getroffen.
    Wir verlassen das Café und hätten dabei fast die Zeche geprellt. Ich zahle alle Getränke und dann nehmen wir die U-Bahn zu den Messehallen, die direkt beim Gerichtsgebäude liegen. Während der Fahrt erkundigt sich von Berlichingen hauptsächlich nach meiner Musik. „Sehen Sie, Herr Kubinski, Sie stehen doch auch auf der Bühne. Die Welt ist eine Bühne, vor allem der Gerichtssaal. Es gab einmal diesen berühmten Rechtsanwalt, der hat immer den Dracula gemacht.“ Berlichingen flattert mit den Armen und schiebt seinen Unterkiefer vor, so dass seine unteren Schneidezähne bedrohlich hervorlugen. „Der hat seine Robe perfekt eingesetzt. Jeder Fall ein Sieg.“
    Mit der Rolltreppe gelangen wir ans sonnige Tageslicht. Trotz des aufkommenden Herbstes ragen die Kronen der Linden noch stolz in den Himmel und werfen majestätische Schatten auf die klassischen Fassaden des Justizgebäudes. Ohne es zu merken, landen wir im falschen Haus. „Mensch, das ist ja angenehm, dass die hier nicht so eine strenge Personenkontrolle durchführen, gerade jetzt, nach den Anschlägen“, meint Berlichingen und öffnet die Tür zum Zimmer 176, wo die Hauptverhandlung stattfinden soll.
    Leer.
    „Wie? HIER soll verhandelt werden? Ist ja keiner da.“
    Eine nette Dame klärt uns auf, dass sich das Strafjustizgebäude auf der gegenüberliegenden Seite befindet.
    „Waren Sie schonmal hier?“, frage ich nervös.
    „Aber ja, damals hatte ich Wiglaf Droste verteidigt.“
    Auf der anderen Seite erwartet uns eine extreme Personenkontrolle. Wir müssen verschiedene Schleusen durchschreiten und alles Metallische und unsere Handies abgeben. Götz von Berlichingen legt Unmengen von Schlüsselbunden auf einen neutral gestrichenen Tisch. Trotzdem piept es, als er durch den Detektorrahmen geht. Ein Beamter kommt mit genervt hochgezogenen Augenbrauen aus seiner gemütlichen Kabine. Mein Anwalt wühlt weiter in seinen vielen Hosen- oder sollte ich sagen: Robentaschen. In einer Minute ist unsere Verhandlung.
    „Ja, was kann denn das sein?“, fragt er sichtlich verwundert.
    Der Beamte baut sich direkt vor ihm auf: „Ich muss Sie jetzt anfassen.“
    „Ja, machen Sie das.“
    „Wo wollen Sie eigentlich hin?“, fragt er.
    „Na, ich bin doch Verteidiger, ich habe doch gleich einen Prozess.“
    „SIE sind Verteidiger? Haben Sie einen Anwaltsausweis?“
    „Ja natürlich...nur wo...?“

    Als wir endlich vorm Zimmer 176 ankommen, gibt man uns zu verstehen, dass die Verhandlung um eine Viertelstunde verschoben wurde.
    Von Berlichingen gibt einen letzten Tip: „Wenn der Richter fragt, ob Sie eine Aussage zu dem Vorfall machen wollen, dann sagen Sie ja.“
    Die Tür öffnet sich, und wir werden in einen quadratischen Raum mit hoher Decke und drei großen Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite hineingeführt. Hölzerne Zäunchen grenzen das Arreal des Angeklagten, der Staatsanwältin und des Verteidigers ab. „Sieht aus wie eine Holz-Scooter-Bahn“, denke ich bei mir. Und da kommt sie auch schon: die Grande Dame der Anklage, Frau Staatsanwältin persönlich! Elegant nimmt sie im Diskohäuschen Platz und wird den rollenden Paaren gleich etwas Feuer unterm Arsch machen mit einem heißen Dancetrack und knackigen Sprüchen wie „da rollt Euch der Kitt aus der Brille!“. Links von mir springt der Geldeintreiber und Münzen-Joe von Wagen zu Wagen, greift zielsicher nach den stromversorgenden Stangen und läßt sich dann am Bahnrand nieder. Und nun: Manege frei für den Schlichter und Richter, das Zünglein an der Waage, den Big Boss im Fair Play.
    Da sitze ich also, eingekesselt zwischen den richtenden Gewalten, Spielball der Elemente. Und es geht los. Die Staatsanwältin verliest meinen Drohbrief: „Herr Arntz! Ihr Leben ist keinen Pfifferling mehr Wert! Sie haben sich soeben mit ANTHRAX infiziert - “
    Aber da wird sie schon vom Richter unterbrochen: „Entschuldigen Sie, werte Kollegin, aber da steht Pfeiferling, nicht Pfifferling.“
    Nun melde ich mich zu Wort: „Wissen Sie, ich fand das besonders lustig. Es sollte ja auch ein Scherzbrief sein. Daher Pfeiferling, nicht Pfifferling.“
    Eine Kopie des Briefumschlags wird mir vor Augen gehalten. Ja, das ist mein Brief. An dem Gekrakel wird herumgedeutelt. Hätte ich doch ZUERST ganz oben „An Herrn Heiko Arntz geschrieben“, aber jetzt stehe oben „An den Haffmansverlag“ und nur DANEBEN stehe der Satz „Herrn Heiko Arntz persönlich“, den ich wohl mit Kringeln und Pfeilen irgendwo zwischen Adressat und Strasse quetschen wollte, aber das sei nicht deutlich genug.

    Mein Verteidiger beschreibt den Konkursverwaltungsbeamten nachdrücklich als „soliden Mann“, eben einen, dem der Humor kein Megaphon ins Gitterbett gelegt habe, und versucht es schließlich doch nochmal mit der ABERRATIO ICTUS, worauf aber seitens der Staatsanwaltschaft nicht eingegangen wird. Das sei ein wirklich SCHLECHTER Scherz von mir gewesen, findet die Frau Staatsanwältin. Sie ist eine kurzhaarige, etwas triste Erscheinung, die schnell merkt, dass ich nicht Gangster genug bin, um ihr Blut in Wallung zu bringen. Dennoch vermeidet sie es, mit mir Blickkontakt aufzunehmen. Ich nehme an, dass sie die Bühnentricks der Welt fürchtet und eigentlich lieber dem Geräusch von Schubladen lauscht, die sich leise und klickend schließen wie die Akten abgeschlossener Fälle.
    Auch mein Fall ist schnell abgeschlossen und ein Eintrag im Strafregister wird von meinem heldenhaften Anwalt vereitelt. Allerdings muss ich mich auf eine saftige Geldstrafe einstellen. Wie sich später herausstellt, entspricht sie ungefähr dem Honorar meines Anwalts.

    Auf der Rückfahrt erzählt mir der sichtlich vergnügte Herr von Berlichingen noch von einem grandiosen Fall, bei dem sich ein Scheckbetrüger kurz vor der Urteilsverlesung als Jesus verkleidet habe. Der Richter wollte, als er das sah, gleich wieder zurück ins Beratungszimmer, um das milde Urteil ein bisschen nachzuschärfen, aber da musste er auf dem Absatz kehrtmachen, denn ein bereits entschiedenes Urteil darf nicht mehr rückgängig gemacht werden. Von Berlichingen sei während der Aktion nicht mehr verhandlungsfähig gewesen. Besonders gut hatte ihm der Drohbrief gefallen, den der Angeklagte nach der Vorladung zum Gericht mit folgendem Wortlaut an die Polizeidienststelle abgeschickt habe: „Ziehen Sie sofort ihre Anklage zurück, ich habe ganz Deutschland mit ungedeckten Schecks umstellt.“

    Wir verabschieden uns am Hauptbahnhof.
    Da kommt mir eine Idee: „Glauben Sie, dass es möglich wäre, dieses traumatische Erlebnis in einer theatralischen Aufführung zu verarbeiten? Ich könnte im Büßergewand umherkriechen oder mich an ein Kreuz nageln lassen.“
    Mit listigem Grinsen drückt mir der Advokat ein Zettelchen in die Hand. „Wenn irgendjemand Sie ärgert, hier ist meine Karte.“

    Eine Woche später landet in meinem Briefkasten ein Päckchen mit dem Buch „Das Zwergenzerwürfnis“. Die Übersetzung stammt von Albrecht Götz von Berlichingen. In diesem Buch wird der unglaubliche Fall einer Miss Tasker verhandelt, die beschuldigt wird, täglich ein Dutzend rotbärtige Zwergen durch die Hintertür der Nachbarwohnung gescheucht zu haben. Die Zwerge hätten dann ohne Instruktionen längere Zeit in der Wohnung herumgestanden, bis man sie wieder herausführte. Zur Bekräftigung der Anklage stünden 7000 Zeugen auf Abruf bereit. Die Verteidigungsseite hielt mit 12000 Zeugen dagegen. Am Ende nutzt der Richter einen im Wasserkrug gebrochenen Sonnenstrahl, um alle relevanten Papiere in Flammen aufgehen zu lassen. Damit ist der Fall erledigt.


    Felix Kubinski, 4.6.03
    *Name von der Redaktion geändert
    Geändert von Felix Kubinski (23.07.2003 um 05:48 Uhr)

  2. #2
    Moderator Avatar von honz
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    Und was war nun in der Robentasche des Anwaltes?

  3. #3
    Avatar von Aporie
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    Es ist einfach zu lang. Aber so bald ich Zeit habe, werde ich es fertig lesen. Es scheint sich zu lohnen, auch wenn die Schweizer wieder Mal schlecht wegkommen.

  4. #4
    Member Avatar von Sabeta
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    es ist großartig, es ist wundervoll - auch wenn es von leid erzählt, ist es hoffnung und heilsbringer zugleich.

    sehr gern würde ich weitere geschichten hören, die man in diesem zusammenhang erzählen könnte, ich mein ja nur.

  5. #5

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    Normalerweise halte ich mich kurz. Aber meine lange Forumsabstinenz hat mich zum Pink Floyd des Threadmoaning werden lassen. Es muss halt auch mal ein Schinken drin sein.

    Ansonsten habe ich nichts dagegen wenn die Geschichte verpflanzt wird. Ich kenn mich hier sowieso nicht mehr aus. Schönen Gruss an alte Gesichter!

  6. #6
    Moderatorin
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    Vergnueglich zu verzehren, dieser Schinken!

  7. #7
    Moderator Avatar von honz
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    Der Schinken ist überhaupt nicht zu lang, aber ich will trotzdem wissen was in der Tasche war!

  8. #8
    Member
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    Geschichte des Jahres!
    Keine Frage.

    Mein Gott, was wird in der Tasche gewesen sein? Ein Schlüssel, ein Schlagring, ein Flaschenöffner, das übliche, was man so in Robentaschen hat
    Geändert von Auge (04.06.2003 um 17:56 Uhr)

  9. #9
    Avatar von Hilde
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    Mich hat die Länge der Geschichte ja erstmal etwas erschreckt, was eigentlich blöd ist, in einem Buch wären das nur ein paar wenige Seiten.

    Aber es lohnt sich voll, doch, ein Genuss zu lesen!!
    Danke

  10. #10
    Member
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    Für alle, die erstmal nur die Kommentare lesen, und dann entscheiden, ob sies lesen sollen:
    Sie ist gar nicht so lang wie sie tut, sie wird immer wieder unterbrochen von Mikro-Dramoletten, bizarren Wendungen und grotesken Bildern.
    Ich kannte die Geschichte schon, Felix hat sie mir mal am Telefon erzählt, und obwohl alles so traurig ist (die verwüstete Wohnung), hat er die ganze Zeit gegackert wie ein Odinhühnchen in der Mauser
    Geändert von Auge (04.06.2003 um 18:21 Uhr)

  11. #11
    Camembert Avatar von Edding Kaiser
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    Am lustigsten finde ich die Vorstellung, wie der grundfreundliche Mensch Arntz sich ans Telephon sitzt und mal ganz doll streng sein will: "Felix Kubinski, Du rufst mich sofort mal zurück."
    Köstlich.
    Für Inge.

  12. #12
    Moderator Avatar von DonDahlmann
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    Köstlich. Klasse. Kenial.

    Das mit dem Honorar kenn ich. Mich hat mal ein angeblich ausgewiesener Medienanwalt in einer Unterlassungs-Sache "verteidigt". Am hat mich das Honorar mehr gekostet, als wenn ich die blöde Erklärung unterschrieben hätte.

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