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Anfang der Siebziger ging ich in Buenos Aires zur Schule. Dort las man im Unterricht Jorge Luis Borges, vom dem hatte ich noch nichts gehört, und er interessierte mich so wenig wie die anderen Kinder. Doch die Lehrerin bestand darauf, dass wir eines seiner Gedichte auswendig lernten, und wehe, jemand stockte beim Aufsagen. Puh, ein ganzes Gedicht! Und so eins! Es war sehr 'surrealistico' und ich verstand nur Bahnhof. Heute kann ich noch ein paar Zeilen daraus und finde sie sehr schön trotz ihrer Spärlichkeit. Oder wegen?
Zur Weihnachtsfeier war ich in einer riesigen Villa voller Leute. Die Klimaanlage lief nicht und es war so heiß, dass sich die Wachskerzen auf dem Tannenbaum bogen. Ich stand etwas verloren in der Menge, mit glaube ich einem Glas kaltem Saft in der Hand, da sah ich in an der Seite in einem Fauteuil einen beunruhigenden alten Herrn sitzen. Er trug eine brokatene Weste und ein Jackett, hatte die Beine mit den zweifarbigen Schuhen unten dran übereinander geschlagen. Seine Haare waren lang und weiß, über der Vogelnase saß eine große und ganz schwarze Brille. Er plauderte liebenswürdig mit jemandem, der neben seinem Sessel stand. Ich fühlte mich unbehaglich, als ich ihn so sitzen sah, der Mann war unheimlich. Jemand fasste mich von hinten, schob mich nach vorn und ich hörte, dass ich dem Herrn guten Tag sagen sollte. Widerwillig reichte ich ihm die Hand, aber er streckte die seine nicht aus. Das Gesicht mit der schwarzen Brille bewegte sich hin und her, was war das. Schließlich hatte ich irgendwie doch seine Hand in der meinigen, es war eine freundliche Hand, wie merkwürdig! Er sagte etwas zu mir hin, sehr liebe Worte mit einer Stimme, ich habe noch fast ihren Ton im Ohr. Was er mir sagte, weiß ich nicht mehr, schade. Sein Spanisch war jedenfalls ganz anders als das der Lehrer in meiner Schule.
Erst ungefähr zehn Jahre später erzählte mein Vater zufällig von einem Gespräch mit Jorge Luis Borges, damals in Buenos Aires. Da wär ich doch gern dabeigewesen, überlegte ich. Irgendwo fand ich ein Foto von ihm und mir war, den kenne ich doch? Dann fiel es mir Stück für Stück wieder ein.
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Eine vergessene und einem dann viel später elternseitig und mit photografischer Unterstützung wieder aufgetauchte Geschichte. Hübsch.
Wobei solche Fälle dann den Nachteil haben, dass die Details etwas leiden, weil der Erinnerungsprozess sie ziemlich plattwalzt. Ich hätte gerne noch etwas mehr Borges gehabt.
Ist die Doppeldeutigkeit des einleitenden Satzes: 'Dort las man im Unterricht Jorge Luis Borges, vom dem hatte ich noch nichts gehört, und er interessierte mich so wenig wie die anderen Kinder.' beabsichtigt? Wie auch immer - es ist eine sehr schöne Doppeldeutigkeit.
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Suchen Sie uns denn auch noch das Gedicht bitte? Oder wenigstens die paar spanischen Sparzeilen daraus. - Wäre es nicht phantastisch gewesen, wenn Ihr Schulbuch auch Photos von den Dichtern enthalten hätte? Wahrscheinlich hätte Borges Sie und Ihre Kameraden dann schon viel früher unheimlich beeindruckt, und Ihre ganze Geschichte - also diese hier meine ich - wäre anders verlaufen, irgendwie mit weniger Verzögerung drin.
Fanny
PS: Aber Hochachtung! Borges! Gab es ihn also doch.
(Beitrag wurde von Tiffany Nudeldorf MD am 13.11.2001 um 15:36 Uhr bearbeitet.)
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Ich habe nur das eine Bild von Borges, wie er auf seinem Sessel sitzt. Dann das Gesicht und die Stimme. Es gab ihn.
Fanny,ich werde das Gedicht im Buchladen suchen und für Sie einfügen. Die Schulbücher waren nur so Hefte, Fotos waren gar nicht üblich, dorten.
@Bartholmy: Die Doppeldeutigkeit war nicht Absicht. Jetzt seh ich sie auch! Sie passt nicht. Man muss halt besser aufpassen.
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O, die Sittenpolizei greift ein. Ich fand die Unterhaltung zwischen Fanny und Herrn Cohn, jedenfalls in diesem Strang, durchaus geschichtebezogen.Da muss ich mich wohl mit Herrn Cohn argentinisch unterhalten, damit mir nicht das gleiche Schicksal blüht.
Tengo mis dudas en el hecho que los Ches pequenitos ya podrian occuparse en la escuela con Borges, ni hablar de entenderlo. Pero mi ha gustado mucho como Vd ha descrito el caracter de Borges hablando de sus zapatos bicolores.
De todas formas su modo de cuentar se ha mejorado mucho desde la ultima vez.
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Estoy feliz de aver comprendido cada simpatica palabra de Vd! Sed nemo sequitur. Et vale!
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Borges hab ich in guter, wenn auch schwacher Erinnerung. Vielleicht bin ich aber auch voreingenommen. Da hat mir doch mal eine junge Dame (Hispanistin...heisst das so??) ihre Liebe in einem Brief gestanden, in dem sie auch eine Passage aus Borges kopierte... es ging, wenn ich mich recht erinnere, um die Reflektion darüber 'wer ich bin'. War irgendwie schwer melancholisch und philosophisch. Leider hab ich die Passage nicht mehr im Kopf.
Aporie, es wird nicht gesagt, wie alt die Schüler waren, warum also zweifeln sie? Von Verstehen der Gedichte war auch nicht die Rede, nur von auswendig Lernen. Aber sie sind ja sicher auch ein aufmerksamer Leser.
Zumindest danke für den spanischen Kurztext. Ob ich den Original Borges auch noch so gut verstehen würde, ist fraglich.
Nachtrag: Ganz vergessen. Mir gefällt ihre Geschichte Herr Cohn. Das nachträgliche Stück-für-Stück-Einfallen der Geschichte spiegelt sich in der bruchstückhaften Erinnerung an die Borges Texte wieder. Schöne Analogie, finde ich.
(Beitrag wurde von vinzi am 13.11.2001 um 18:22 Uhr bearbeitet.)
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Dankeschön! Vielleicht hat er zu mir französisch gesprochen, gesellschaftlich usw hätte das gepasst, aber davon verstand ich nicht das Mindeste.
Borges' Bruchstücke sind die besten.
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Tadellose Geschichte, schlicht und ergreifend! Vielleicht sollten Sie sich eine zeitlang aufs Geschichte schreiben beschränken, Herr Cohn? Das Gedicht fände ich in diesem Zusammenhang auch interessant.
Aporie: Viva Zapata! Hossa! Fiesta, Fiesta Mexicana...
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Ach wie süss. Der Sprache bin ich durchaus mächtig. Das hat auch nichts mit Sittenpolizei zu tun, sondern ist nur ein dezenter Hinweis mancherlei Gespräche in anderen Foren zu führen zu können. Immerhin habe ich es Ihnen eingerichtet.Wenn Sie sich die Mühe machen würden und aufmerksam dieses Forum zu studieren, werden sie feststellen, das es durchaus schon einige Stränge gibt, in denen man sich rein privat unterhalten kann. Der WG-Strang zum Beispiel.
Mich hat die Borges Geschichte auch erfreut, nicht nur wegen der Schuhe.
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Halt! Da war Latein dazwischen, Cohn, ich hab's genau gesehen! Hab ich was gewonnen?