Berger, Helmut (CINEMA ist für Kartoffelvotzen)
Vor ein paar Jahren drehten wir in Berlin einen Film, in dem Helmut Berger in der Rolle des Helmut Berger mitspielte. Die erste Szene mit ihm wurde am Potsdamer Platz gedreht, der damals noch eine riesige Baustelle war. Das Drehbuch sah vor, dass Berger über eine Baustellenbrücke geht und dabei «eine Film-Fachzeitschrift» liest.
Berger erschien gegen 13:00 Uhr am Set. Er hätte eigentlich um 8 da sein sollen. Als Entschuldigung gab er an, dass er sich habe betrinken müssen. Das hatte er allerdings bravourös geschafft. Er war strunzblau.
Dann machte er einen Aufstand. Unter keinen Umständen sei er bereit, in der anstehenden Szene das Magazin «Cinema» zu lesen, das die Requisite für ihn bereithielt. Er lese nur «Variety». Alles Zureden meinerseits nützte nichts. Entweder «Variety» oder er dreht nicht. Ein Assistent fuhr mit dem Taxi los. Es dauerte fast eine Stunde, bis wir ein Exemplar von «Variety» hatten. Wir hinkten mittlerweile mehr als sieben Stunden hinter dem Drehplan her. Und wir hatten noch viel Programm vor uns an dem Tag. Und jeder Drehtag mit Berger kostet Geld. Daher wurde die Devise ausgegeben: Wir drehen die Szene, wie Berger lesend über die Brücke geht, genau EIN mal. Dann packen wir zusammen und rasen zum nächsten Set. Berger nahm das Magazin und ging auf seine Position. Er bestand darauf, dass man ihm mit Klebestreifen auf dem Boden den Punkt markiert, an dem er für die Kamera sichtbar wird – «sonst kann ich nicht präsent sein.»
Kamera – Ton – und bitte! Berger geht los, lesend. Er betritt die Brücke, gleich wird er sichtbar für die Kamera sein. Kurz bevor er den markierten Punkt erreicht, klappt er das Magazin zu und wirft es in hohem Bogen über das Brückengeländer, es flattert anmutig in die Tiefe und mit kaum hörbarem Klatschen landet es in einem Baustellensee, grüsst noch kurz und versinkt dann langsam.
Später drehen wir Innen. Bergers Szene geht wie folgt: Er betritt einen Raum, geht ein paar Schritte, bleibt stehen und sagt dann: «Es ist nie zu spät, das Unmögliche zu wollen, selbst wenn man es nie erreichen kann!» Mittlerweile ist er so blau, dass er kaum noch gehen kann. Geschweige denn sprechen. Wir brauchen dutzende Takes, um ihn überhaupt bis an den Punkt zu bringen, an dem er reden soll. Er wankt, er schlägt hin, er taumelt in die Kulisse und schlägt sich die Fresse blutig. So geht das bis in die Nacht. Und dann... DANN. Hat er den Raum betreten. Er wankt nicht! Er hat es geschafft, bis an die richtige Stelle zu gehen! Jetzt Text, Helmut, bitte!
«Es ist nie zu spät...» Ja, Helmut, Du schaffst es! «...das Unmögliche zu wollen,...» Ja, bitte, sag es, dann können wir alle schlafen gehen! «...selbst wenn man es nie erreichen...» Nur noch ein Wort, Bergerchen, nur noch ein Wort!
Aber Berger sagt dieses Wort nicht. Er hat gemerkt, dass er es beinahe geschafft hat und das kann er nicht zulassen. Das erlaubt ihm sein Selbstzerstörungstrieb nicht. Er darf es einfach nicht schaffen. Und deshalb sagt er nicht das von uns so sehr ersehnte Wort «kann». Sondern den an dieser Stelle unpassenden und in vollendeter Hysterie herausgebrüllten Satz «Solange DIESE Kartoffelvotze im Raum ist, kann ich nicht arbeiten!»
Die Assistentin verliess dann den Saal.
P.S.: Später nannte er mich dann noch «Judensau». Aber das ist eine andere Geschichte.
Helmut Berger bei Schlingensief
Diese Geschichte stimmt. Ich war selbst dabei. Helmut Berger schien mir gar nicht so extrem besoffen, aber wahnsinnig unwillig "ZU FUNKTIONIEREN". Wahrscheinlich lebt Helmut Berger in einer anderen Zeitzone, weshalb er immense Probleme hatte, diesen einen Satz wiederzugeben.
Am Tollsten an der ganzen Aktion war Schlingensief selbst. Er war der Regisseur des Films, der fortlaufend versuchte, den durchgeknallten Berger dazu zu bewegen, diesen einen Satz zu sagen. Schlingensief, ungewohnt ruhig, analytisch, Florence-Nightingale-mäßig, oder Mutter-Teresa-mäßig versuchte Berger quasi schamanistisch einzuschwören auf die Formel.
Helmut Berger konnte es aber nicht. Er fragte, zu recht, wie mir schien:
"Warum soll man etwas Unmögliches versuchen, wenn man es eh nicht erreichen kann!" Gute Frage, oder? Besonders toll war Schlingensiefs Antwort:
"Stimmt, der Satz ist Mist, sag`s bitte trotzdem!".
Der Satz hieß: Es ist nie zu spät, das Unmögliche zu wollen, auch wenn man es nie erreichen kann.
Ich habe mir den Satz gemerkt, komischerweise.
Ich werde ihn wohl nie vergessen.
Helmut Berger setzte sich dann noch neben mich und unser Foto erschien in der "Bild-Zeitung", oder der "B.Z.", oderso.
Das war der Tag, an dem ich neben Berger in der Zeitung erschien.
Aber nur, weil ich ihm Zigaretten spendierte.