Die Tochter von Lothar de Maiziere und der nackte Mann auf dem Reichstag
Chronistenpflicht:
"32 years ago …
Jochen Christian Sandig
3. Oktober 2015
Die Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 in Berlin war eine der verrücktesten Nächte meines Lebens.
Ich war 22 und lebte meinen Traum.
Erst vor wenigen Monaten, es war ein nasskalter Februartag, besetzten wir mit Künstlerinnen und Künstlern aus Ost und West, aus Nord und Süd die Ruine der ehemaligen Friedrichstraßenpassage und gründeten das Tacheles kunsthaus Berlin , das sich binnen kürzester Zeit zu einem internationalen Knotenpunkt vieler Neu-Berliner entwickeln sollte, die in dieser zusammenwachsenden Stadt auch ihren kreativen Traum leben wollten - ein Durchlauferhitzer und Katalysator für die Entwicklung der Berliner Mitte. Heiner Müller machte uns ein schönes Geschenk mit seinem Zitat: "Das Tacheles ist ein stärkeres Symbol der Wiedervereinigung als das Brandenburger Tor". Wir genossen den Alltag im Chaos getreu dem Motto "Die Ideale sind ruiniert, retten wir die Ruine!"
Und jetzt standen wir kurz davor einen 30jährigen Nutzungsvertrag zu unterschreiben für die gesamte Freifläche der ehemaligen Passage. Ein Areal von 30.000 qm, ein riesiges innerstädtisches Quartier! Am 2.Oktober, dem letzten Tag der DDR Geschichte, sollte dieser Vertrag offiziell besiegelt werden. Aber die letzte Kulturdezernentin Ost-Berlins Irana Rusta bekam in letzter Minute aus Angst vor möglichen Restitutionsansprüchen kalte Füsse und so platzte diese historische Chance auf eine langfristige strategische Entwicklung eines ganzen Stadtareals. Ich war vollkommen niedergeschmettert, dass wir so kurz vor dem Ziel auf den letzten 100 m mit unserem Plan gescheitert warten und alles andere als in Stimmung für ein fröhliches Fest der Wiedervereinigung.
So passte auch die apoklayptische Stimmung auf der Freifläche hinter dem Kunsthaus Tacheles zu meiner Gefühlslage. Es brannten einige bedrohlich hohe Feuer, eine Theatercompany aus Amsterdam zelebrierte eine gigantische Performance mit Trommeln in der Nacht. Ein Tanz auf dem Vulkan. Doch es sollte sich noch steigern - mit mächtigem Basswummern eröffnete die "Ständige Vertretung" ihre Pforten, ein erster Techno Club der 90er wurde soeben in den Kellergewölben des Tacheles geboren. Die beiden Gründer, ein Brite und ein Australier, hatten in einer Nacht- und Nebelaktion wenige Häuserblocks um die Ecke das Original Schild abmontiert und so prangte es jetzt als Trophäe sicher hinter Gittern ... Da erinnerte ich mich an eine offizielle Einladung, die ich noch wahrnehmen wollte. Im Reichstagsgebäude fand die feierliche Nacht der Wiedervereinigung statt und wie fremdgesteuert begab ich mich an die Oberfläche dieser realen Welt. Doch was wir in dieser Nacht schon "real"?
Der Reichstag war umringt von Tausenden feierwütigen Menschen mit Deutschland Fahnen, das erste "Fest der Einheit" war noch geprägt von grosser Euphorie und Hoffnung. Die Ernüchterung machte sich erst später breit vor allem in den "neuen Bundesländern", die sich nicht alle in "blühende Landschafen" verwandeln liessen. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge und war schliesslich drinnen im Reichstag, auch hier herrschte emsiges Treiben und eine festliche Stimmung, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte. Es waren auch zahlreiche internationale Gäste geladen und ich hatte das Gefühl, der jüngste Gast zu sein. Es war ein interessanter Kontrast zur Tacheles Freifläche und Techno Keller, jetzt hier dabei zu sein. Die Räume waren mir zu eng und ich wollte nach draussen sehen, zu den Menschenmengen, die den Reichstag wie ein Meer umtobten. In dem Moment , als ich auf einen Balkon tritt, der Richtung Süden zeigte, sah ich wie ein Mann an der Fassade hochkletterte und dem Johlen der Massen sich seiner Kleider entledigte. Dieser symbolische Akt hatte offenbar eine so grosse Kraft, dass alle ihm schliesslich zujubelten und ihn ermutigten seinen Striptease zu Ende zu führen. Im selben Moment trat Lothar de Maizière auf den Balkon. Vom 12. April bis 2. Oktober 1990 war er der erste demokratisch gewählte und zugleich letzte Ministerpräsident der Deutschen Demokratischen Republik.
In dieser Nacht ging also seine Amtszeit in dieser Funktion offiziell zu Ende. Er dachte, der Jubel der Massen gelte ihm und nicht dem nackten Mann auf der Fassade, den er nicht bemerkte und winkte brav mit der rechten Hand. Eine sehr skurile Situation, die ich nie vergessen werden. Ich musste den Witz des Moments unbedingt mit jemandem teilen und nehmen mir stand eine junge - etwa gleichaltrige Frau, die ich ansprach mit den Worten: "Das ist doch typische Eitelkeit von Politikern, alles müssen sie auf sich beziehen". Sie zuckte nur mit dem Achseln und erwiderte: " So ist halt mein Vater..."
- Cut -
Am nächsten Tag ging es weiter mit einem offiziellen Staatsakt in der Berliner Philharmonie, die ich an diesem Tag zum ersten Mal betrat und in die ich mich sofort verliebte. Was für ein Gebäude, am Nachmittag dieses Mittwoch, 3. Oktober waren die Foyers lichtdurchstrahlt. Es gäbe hier noch vieles zu erzählen, zum Beispiel von der ermutigenden Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Ich erinnere mich genau, wie er die zahlreichen "Bürgerinitiativen" im Lande lobte und aufforderte, sich aktiv an der Demokratie zu beteiligen. Sinngemäss sagte er, dass die Bürgerbewegung die DDR zu Fall gebracht hatte und auch die Zukunft des wiedervereinigten Deutschlands eine Frage der Bürgerbewegung sei, eine Frage von Bürgern in Bewegung - im geistigen wie im körperlichen Sinne. Ich glaube, diesmal habe ich mich angesprochen gefühlt, gerade wenn ich so zurückschaue, was ich in den letzten 25 Jahren so getrieben habe in Berlin. Es scheint doch richtig zu sein, dass wir alles in gewisser Weise auf uns beziehen.
In diesem Sinne möchte ich auch Lothar de Maizière, seiner Tochter und dem Striptease Akrobaten und all den anderen bekannten und unbekannten Akteuren der deutsch-deutschen Geschichte von ganzem Herzen zum Tag der Deutschen Einheit gratulieren, dem ich auch 25 Jahre danach immer noch mit gemischten Gefühlen begehe, denn eigentlich müssten wir doch endlich in einen neuen Modus kommen und in einem Einwanderungsland, zu dem sich die Bundesrepublik mittlerweile entwickelt hat, den TAG DER DEUTSCHEN VIELFALT feiern!"
Quelle: Jochen Christian Sandig, in seinem Facebookstream am 3.10. 2022
https://www.facebook.com/jochen.sandig