Dall, Karl – Ergänzung zu seiner neuen Autobiographie
In den siebziger Jahren war es für meine Eltern normal, als Jahresurlaub eine ca. 5-tägige Reise mit dem Auto zu unternehmen. Da die selbstgewährte Urlaubszeit knapp war, kamen als Reiseziele nur Gegenden in Frage, in die man innerhalb eines Tages fahren konnten. So waren wir also innerhalb eines 800-km-Radius unterwegs, was für uns vom Schwarzwald aus entweder Südtirol, Lago Maggiore oder Nordsee bedeutete. Im diesem Urlaub zog es uns, also meine Eltern, meine Schwester und mich, an die Nordsee.
In einer disziplinierten Handwerkerfamilie ist der frühe Morgen die Zeit, wo man unangenehme Dinge erledigt, damit der Tag positiv produktiv wird. Für die Urlaubszeit heißt das, morgens früh um 2.30 Uhr loszufahren, damit man spätestens um 11.30 vor Ort ist, um somit den Tag als aktiv erlebten Urlaub verbuchen zu können.
Aus Sparsamkeitsgründen wurde in Zelten geschlafen. Gebucht wurde nie, immer aufs Geratewohl ein freier Platz gesucht. Immerhin standen wir nie ohne Unterkunft da, irgendein Plätzchen gabs immer. Die Tage waren erfüllt von staundenden Spaziergängen im Watt, irgendwie war immer Ebbe, und von der Suche nach Fischbrötchenbuden. Für uns Extrem-Binnenländer war das Meer etwas äußerst exotisches, und wir waren alle begeistert. Durch das Leben in einer kleinen Welt blieben wir leicht erstaunbar.
Der Höhepunkt der Urlaubsfahrt bahnte sich harmlos an. Damit man auch mal eine Nordseeinsel gesehen hatte, beschlossen wir, mit der Fähre auf Norderney zu fahren. Frühmorgens (siehe oben) ging es los, und nach kurzer Fahrt waren wir in Norddeich und legten mit der Fähre über. Auf Norderney wurde über die Autofreiheit, das Watt und die leckeren Heringsbrötchen gestaunt und danach wieder die Rückfahrt auf der Fähre angetreten. Dank des schönen Wetters saßen wir vorne auf dem Oberdeck der Fähre. Plötzlich sagte mein Vater mit leiser, aber aufgeregter Stimme: „Dä henne huckt doch dä Dall!“ (Alemannisch für: Da drüben sitzt doch der Dall!) Wir schauten sofort rüber und sahen IHN: Karl Dall mit dem zuen Auge, in der vordersten Reihe für jedermann zu besichtigen! Wir waren platt. Sonst nur im Fernseh, jetzt lebend mitten unter uns, nur einige Schritte entfernt! Da uns Anstand und Mutterbildung in die Wiege gelegt wurden, setzten wir uns brav hin und taten so, als hätte dieser unerhörte Vorgang gar nicht stattgefunden.
In Wirklichkeit spähten wir natürlich doch dauernd rüber. Es lohnte sich. Im Laufe der Minuten bahnte sich ein kleines Schauspiel an, das mir unvergesslich bleiben wird. Es war anscheinend so, daß alle Passagiere den selben Anstand besaßen, denn niemand machte Anstalten, Ihn aus der Nähe zu bewundern oder gar nach einem Autogramm zu fragen. Seine Platzwahl war wohl schlechter als vermutet, denn erste Reihe hieß für die meisten Mitreisenden „Dall von hinten“. Das machte Herrn Dall deutlich zu schaffen, er schaute immer säuerlicher und fing an, sich auffällig umzuschauen. Immer noch keine Reaktion. Da wurde es dem Blödelbarden (damals war er, wenn ich mich recht entsinne, hauptsächlich durch Insterburg & Co bekannt) zu bunt. Er stand auf, drehte sich und seinen Stuhl um und setzte sich als einziger Fahrgast entgegen der Fahrtrichtung. Endlich! Einige Passagiere bekamen wohl Mitleid und schickten ihre Kinder zu ihm, um Autogramme zu holen, die er dann vordergründig leicht genervt, aber bei genauem Hinsehen doch mit tiefer Befriedigung verteilte.
Diese Episode wurde natürlich von uns auf der Rückfahrt zum Campingplatz ausführlich diskutiert und analysiert, selbstverständlich mit vernichtendem Ergebnis für Karl Dall.
Zufrieden, normale und bodenständige Menschen zu sein, kehrten wir in unsere Zelte zurück und fanden große Bestätigung darin, keine eitlen Fernseh-Pfaue sein zu müssen.
Der Rest des Urlaubs wurde mit Wattwandern, Heringsbrötchen essen und Muschelsuchen verbracht, zwei Tage später gings dann frühmorgens los, um abends rechtzeitig zu den Nachrichten wieder zuhause zu sein.