Im Sommer 1994 herrschte schlechte Stimmung in Plas Maesincla. Prince Charles, fucking son der fucking Queen, feierte 25-jähriges Prinzenjubiläum und er wollte dieses Jubiläum ausgerechnet in Caernarfon feiern. Dabei hatten sich die Waliser schon 1969 bei seiner Ernennung zum Thronfolger alle Mühe gegeben, ihm den Tag zu versauen. Der junge Charles wurde damals während der ganzen Zeremonie so platziert, dass er – von seinem Platz auf der Balustrade aus - stundenlang auf die Toilettentür blicken musste. Noch heute erzählen die Einwohner der Stadt mit diebischer Freude von diesem Scherz.
Ich arbeitete damals in der Stadt Caernarfon in Nordwales in einem Altersheim. Das Haus heißt Plas Maesincla und ist ein Altersheim, wie man es in jeder größeren Stadt findet. Das besondere an Caernarfon ist jedoch nicht dieses Heim, sondern die Burg. Das Castle bestimmte die jüngere Geschichte der Stadt, die mit ihrem Hafen und den mittelalterlichen Straßen ein richtiges Touristenzentrum ist – zumindest für walisische Verhältnisse. 1969 wurde Prince Charles innerhalb der Burgmauern auf einer runden Plattform aus walisischem Schiefer zum Prince of Wales und damit zum britischen Thronfolger ernannt.
Nun muss man wissen, dass es untertrieben wäre, die Engländer in Wales als „unbeliebt“ zu bezeichnen. Selbst „verhasst“ wäre ein Ausdruck, der nicht annähernd die grenzenlose und allumfassende Abneigung der Waliser gegen die „fucking bastards“ aus London bezeichnet. Man ekelt sich geradezu vor allem, was aus England kommt. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass jeder rechtschaffene Waliser die Briefmarke mit dem Antlitz der Queen verkehrt herum auf den Briefumschlag klebt. Den Kopf nach unten: So wünscht man sich die Königsfamilie. Geht man während einer WM oder eines Europapokalspiels in einen Pub, sieht man immer das gleiche Bild. Alle Besucher sind immer und ohne Ausnahme für das nichtenglische Team. Egal, ob es sich nun um Deutschland, Äqypten oder Argentinien handelt: Hauptsache, England verliert.
Besonders krass ist diese grenzenlose Verachtung in Nordwales spürbar. Dort, im Umkreis von Caernarfon, spricht man noch walisisch. Eine aussterbende Sprache. Und kaum ein Engländer, der dort oben Urlaub macht, kann auch nur einen einzigen Satz in dieser Sprache von sich geben.
Das Programm für den Jubiläumsbesuch von Prince Charles in Caernarfon war vollgepackt mit Terminen. Gleich am Morgen kam er zu uns ins Heim. Vorgesehen waren 45 Minuten, allerhöchstens 60. Anschließend sollte es weitergehen in andere soziale, politische und kulturelle Einrichtungen der Stadt. Die Heimleiterin und zwei Kolleginnen (eine davon war ich) sollten den Prinzen während des Besuchs durch alle Zimmer begleiten. Es war nicht vorgesehen, dass wir lange Gespräche mit ihm führen würden – schließlich sollte er im Eildurchlauf und begleitet von seiner Entourage alle Zimmer des Heims aufsuchen. Ganz kurz!
Der Prinz kam pünktlich. Er schien gut gelaunt, begrüßte die Heimleiterin und sagte, er wolle sogleich in eines der Zimmer gehen. In diesem Zimmer wohnte – wie in allen anderen Zimmern auch – eine Oma. Charles begrüßte sie, redete mit ihr. Sie fragte etwas, er antwortete. Zwischendurch überraschte er sogar immer wieder mit ein paar walisischen Sprachbrocken. Er hatte sich offenbar vorbereitet. Nach etwa drei Minuten schauten seine Begleiter auf die Uhr. Sie räusperten sich. Man müsse jetzt aber. So langsam. Der Prinz hörte nicht hin. Redete mit der Oma. Nach zehn Minuten verabschiedete er sich. Die Augen der Oma, die dem Besuch des Thronfolgers zuvor – wie alle anderen – sehr skeptisch entgegen gesehen hatte, strahlten. Wir gingen weiter ins nächste Zimmer. Das gleiche Bild. Fünf bis zehn Minuten redete Charles mit einer einzigen Oma. Und hinterließ sie strahlend und überglücklich. Im dritten Zimmer wohnten die Jones-Zwillinge, zwei reizende ältere Damen mit bläulich schimmerndem Haar, die ihren Lebensabend gemeinsam im Altersheim verbrachten, so, wie sie ihr gesamtes Leben gemeinsam verbracht hatten. Prince Charles erzählte und er hörte zu. Er lachte mit den alten Damen, sie lachten mit ihm. Mittlerweile war etwa eine halbe Stunde vergangen und die Begleiter des Prinzen wurden immer nervöser. Die Zeit! Sie drängte! Doch der Prinz war jetzt nicht mehr zu halten. Er hatte sich offenbar vorgenomemn, mit jedem Heimbewohner zu sprechen. Ich schätze mal, dass damals mindestens 50 Leute in Plas Maesincla lebten. Und Prince Charles redete an diesem Tag mit jedem einzelnen von ihnen! Unbekümmert und unbeirrt lachte und schäkerte er mit den meist weiblichen Bewohnern, nahm sie an der Hand, streichelte die eine oder andere, die im Bett lag, über den Kopf, und nahm sich vor allem viel, viel Zeit. Nach etwa zwei Stunden hatten wir höchstens ein Drittel der Zimmer hinter uns und die Begleiter des Prinzen hatten inzwischen kapituliert. Hektisch wurde herumtelefoniert und in Walkie Talkies geflüstert, doch den Thronfolger kümmerte all dies überhaupt nicht. In einer Seelenruhe wandelte er durch die Hallen, ließ sich zwischendurch von uns noch die eine oder andere Neuigkeit erzählen und verließ das Heim erst, als er – nach etwa sechs Stunden - auch den allerletzten Bewohner und die allerletzte Bewohnerin besucht und ausführlich mit ihnen geredet hatte.
Die Königsfamilie und alles andere, was aus England kommt, ist in Wales zwar immer noch verhasst! Aber zumindest in Caernarfon hat Prince Charles an diesem Tag unglaublich viele Sympathien gewonnen. Und zu mir sagte er beim Abschied sogar „Auf Wiedersehen“. Auf Deutsch! Und wenn er mal König wird, werde ich die Briefmarken richtig herum auf den Brief kleben.
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