Wer ist denn das? dacht' ich, als ich Charlotte zum erstenmal in einer Talkshow sah, lief mangels einer Fernbedienung zu meinem alten Kasten, stellte den Ton an und staunte: Ecce homo, eine würdige ältere Dame, sie ist mir sympathisch, und ich wäre ihr sympathisch; denn schließlich bin auch ich ein Transvestit: eine Frau, die seit 32 Jahren keinen Rock mehr getragen hat.
Vor beinah genau zehn Jahren war's, daß ich sie im Hamburger Gnosa sitzen sah, ganz unscheinbar an einem Tisch, und sie grüßte, während ich mich höflichst mit meinen Begleitern langweilte. Lottchen lächelte erfreut und reichte mir ihre Visitenkarte, nicht ohne vorher ihre alte Telefonnummer durchzustreichen und die neue darüberzuschreiben, in ihrer schnörkeligen Damenhandschrift.
Drei Jahre später sah ich sie wieder, nach einer Lesung in der Bremer Schauburg, die ausnahmsweise geöffnet hatte, bis nachts um drei auch die letzten Gäste verschwunden waren. Da stand Lottchen, da stand ich. Und Lottchen hatte Appetit. Wo man denn hier noch etwas essen könne? fragte sie; und ein junger Mann aus der ehemaligen DDR und ich führten sie zum nahen Türkenimbiß, als sie vor einem alten Küchenutensilienladen stehenblieb, eine Rose in der Hand, und mit verzückter Stimme rief: "Eine Gründerzeitsäule! Eine wunderschöne Gründerzeitsäule!" Sie streichelte die Säule, schwärmte und erzählte, bis wir den Imbiß betraten und die noch anwesenden düsteren Herren sie anstarrten, um gleich darauf diskret beiseitezublicken. Something's happening here, what it is ain't exactly clear ...
"Ich hätte gern eine Suppe mit weißen Bohnen. Und dazu ein Glas Milch", sagte Charlotte und aß schließlich mit größtem Behagen, während der junge Mann aus der ehemaligen DDR eine Frage nach der andern stellte und zu verstehen gab, er verstehe nicht, daß ein Mann nur Röcke tragen wolle. Charlotte schluckte. "Ich bin auch ein Transvestit", sagte ich und wies auf meine Hose; und der junge Mann aus der ehemaligen DDR sah mich noch verständnisloser an. Lottchen aber strahlte wissend und überreichte mir zum Abschied am Taxistand ihre rote Rose.
Nun ist Lottchen tot; die Nachricht kam heute in der Tagesschau. Hallo, Lottchen! Dies schreibe ich für dich. Und ich zitiere noch einmal deinen guten Lehrer, den du in deinem Buch zitierst: "Kinder, geht nicht verschlossen wie ein Koffer durch die Welt!"
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