Es muß wohl Winter gewesen sein, denn ich war häufig mit Frieren beschäftigt und alles, was so an Landschaft zugegen war, guckte reichlich zugeschneit aus der Wäsche. In jenem Jahr - wie auch im Jahr davor wie auch im Jahr danach - hatte ich mich als Aushilfs-Lohnsklave in einer Skihütte in den Alpen verdingt. Meine Arbeitgeber waren zugleich auch meine Eltern, und ich pflegte meinen Vater damals "Big Brotherr" zu nennen, allerdings nur in seiner Abwesenheit, denn mein Vater ist des Englischen nicht mächtig und es war mir nie ein Anliegen gewesen, verwirrendes oder gar aufmüpfiges Gedankengestrüpp in die Herzen meiner in finanziellen Fragen stets sehr großmütigen Erzeuger zu pflanzen. Ich war allzeit ein auffallend artiges Kind, und die mir eigene, sich weit in die Adoleszenz hineinziehende ausschweifende Harmlosigkeit bereitete meinen überaus aufgeschlossenen Eltern mitunter große Sorge. Denn nur heimlich verbreitete ich bisweilen Gerüchte wie diese: daß mein Vater mich stets mit den Worten "Träum was Vernünftiges" zu Bett geschickt hätte; daß ich von meiner Mutter immer, wenn ich als motorisch noch nicht vollständig funktionstüchtiges Kleinwesen mich oder meine Umwelt bekleckert hatte, mit den Worten "Wer nicht essen kann, soll´s lassen!" ermahnt wurde. Selbstredend haarsträubender Unfug, der jedoch ebenso gerne gehört wie geglaubt wurde, schien sich diese Darstellung meiner frühen Kindheit doch vorzüglich als Erklärung für mein gegenwärtiges Sein zu eignen.
Da meine Eltern meine misanthropische Gesinnung zumindest erahnten, wurde mir der Abwasch als Aufgabenbereich zugeteilt, um etwaige Kontakte zwischen meinem empfindsamen Wesen und den polternden Touristenhorden weitgehendst zu verunmöglichen. So war ich also die meiste Zeit damit beschäftigt, auf verschmähte Essensüberreste zu warten und bei gepflegten Getränken - bevorzugt Glühwein - den Tag wegzulümmeln. Um nicht mißverstanden zu werden: es handelte sich dabei um die Fifth Avenue unter den Skihütten, ich hatte Berge von Geschirr zu säubern, und das Thema Skihüttengaudimusik muß an dieser Stelle wohl nicht gesondert erörtert werden. Trotzdem und deswegen war für ein Schlückchen Glühwein im Stehen immer Zeit; es machte die Arbeit erträglich und die Gedanken leicht.
Hin und wieder wurde ich mütterlicherseits genötigt, mein Refugium zu verlassen um für Gulasch-Nachschub aus dem Lagerraum zu sorgen. Die Gulaschsuppe des Hauses war ausgesprochen beliebt, und meine Mutter verweigerte sich beharrlich den zahlreichen Anfragen neugieriger Gäste hinsichtlich Zutaten und Zubereitung. Was zur Folge hatte, daß ich die riesigen Instantgulasch-Dosen stets in diskreten Plastiktaschen vom Lager quer durchs Lokal in die Küche zu transportieren hatte. Eine durchaus verantwortungsvolle Aufgabe, die man mir da zugedacht hatte: Eine kleine glühweinbedingte Unachtsamkeit hätte fatale Folgen nach sich ziehen können.
Eines Tages, mitten in der Rush-Hour, plötzlich Aufregung: "Der Witzigmann ist da!" Aha, dachte ich, und: Soso. Ich stellte - ohne Hast - meinen Glühwein ab, um mal eben einen skeptischen Blick durch das Lokal schweifen zu lassen. Und tatsächlich: da saß an einem Ecktisch, nebst weiblicher Begleitung, Eckart Witzigmann: der Koch des Jahrhunderts, der Mann der durch einen Biß in eine rohe Kartoffel die jeweilige Kartoffelsorte zu benennen imstande ist; der ehemals koksende Küchenmeister, der sich bei mir in einem gemeinsamen Ordner mit Konstantin Wecker und Fritz Wepper befindet. Wecker, Wepper, Witzigmann: Das Müncher Koks-Triumvirat. So merk ich mir die.
Die Aufregung war jedoch schnell wieder verflogen, es gab viel zu tun, und Sonderbehandlungen für Promis kamen uns sowieso nicht in die Hütte. Ich beschwipste mich zusehends und ertrug den wachsenden Geschirrberg mit heiterer Gelassenheit, als sich plötzlich die Außenwelt bemerkbar machte: "Gulaschsuppe zu Tisch 6." Wenn sich mal für längere Zeit kein Kellner in der Küche blicken ließ, was so zwei- bis dreimal am Tag vorkam, waren meine Servierkünste gefragt. Schnell noch ein Schlückchen Glühwein als Wegzehrung, und schon ergriff ich anmutig Brotkorb und Gulaschtasse, um sogleich ein wenig des Inhalts schick auf den Unterteller zu verteilen. Behende betrat ich durch die Schwingtür das Lokal, erinnerte mich der Aufgabenstellung - Suppe zu Tisch Nummer 6 bringen - und zählte im Gehen die Tische: Eins - zwei - drei - vier - fünf - Witzigmann. Ich blieb abrupt stehen und kleckerte spontan einige zusätzliche Nuancen Gulasch auf den Unterteller und meinen dort befindlichen Daumen. Knappe drei Meter war ich noch von Tisch 6 entfernt, und dort saß stoisch und allein Eckart Witzigmann bei einem Glas Prosecco. Seine blonde Begleiterin war entschwunden, aber der Meister himself harrte der Suppe, die da kommen möge. Ich war nicht wirklich Herr der Lage und angesichts der Sauerei auf dem Unterteller knapp davor, den Rückzug anzutreten, mein Scheitern einzugestehen und diese Mission berufeneren Menschen zu überlassen. Ich haderte noch ein wenig mit meinem Schicksal, bis ich bemerkte, daß ich mich mit einem Mal im Fokus von Witzigmanns Aufmerksamkeit befand. Er schenkte mir einen strengen, väterlichen Blick und nickte dabei fast unmerklich mit dem Kopf, wohl um mir Mut zu machen. Nun hieß es handeln, ich war bemüht, einen tunlichst orientierungslosen Eindruck zu machen, ließ meinen Blick recht konsterniert durch das Lokal schweifen und wackelte dann zu Tisch Nummer 6: "Einmal Gulaschsuppe?". Witzigmanns volle Konzentration galt nun schon der ihm von mir dargebrachten Speise, er nickte wieder fast unmerklich, würdigte mich noch eines kurzen Blickes, während ich Suppe und Brotkorb abstellte und "Guten Appetit" murmelnd enteilte.
Der nächste Schluck Glühwein ist immer der Beste. Und weil´s im Leben stets ein Wiedersehen gibt, brachte mir mein Vater später die besagte Suppentasse samt Unterteller zwecks Säuberung in die Küche. Daß er "Schau dir die Sauerei an. Kann nicht mal richtig essen, der feine Herr Haubenkoch!" gesagt hat, habe ich mir wohl nur ausgedacht - ein pointengeiles Luder, meine Erinnerung. Mein Big Brotherr schien allerdings ein wenig erzürnt darüber zu sein, daß Witzigmann nicht mal die Hälfte seiner Suppe weggelöffelt hatte. Ich hingegen, der am meisten davon betroffen war, wenn Gäste ihr Mahl nicht zu Ende vertilgten, da Speisereste und ihre Beseitigung in mein Ressort fielen - ich grollte dem großen Gastronomen keine Sekunde: schließlich war es bereits zwanzig Minuten vor Feierabend, und in Gedanken sah ich mich bereits leichtfüßig und Glühwein-to-go aus dem Plastikbecher schlürfend talwärts schlendern.
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