Gestern, Migros Limmatplatz, Mittag, meine Frau und ich hatten gerade fertig gegessen, stand plötzlich ein grosser, alter Mann neben unserem Tisch, wir hatten ihn nicht kommen sehen, er stand einfach plötzlich da, und fragte ruhig: 'Wissen Sie, wer ich bin?' Ich wusste es sofort, ohne Nachzudenken, ein Gesicht, dass man nicht vergisst, immer noch ein Abbild von wild entschlossener Integrität. 'Meier 19?' fragt ich. 'Ja, der bin ich'.
1963 war das Jahr des grossen Zahltagssäckleinraubs. Rund 90'000Sfr. verschwanden damals aus der Kasse der Kriminalpolizei Zürich, bereits verpackt in beigefarbene Couverts, sog. Zahltagssäcklein, für die einzelnen Fahnder. Der Raub ist bis heute nicht aufgeklärt, obschon es fast als gesichert gilt, dass kaum jemand als Walter Hubatka, dem damaligen Kripochef, den Raub begangen haben kann.
Kurt Meier, Jahrgang 1925, wurde 1965 zum Detektivwachtmeister befördert, gleichzeitig aus der Spezialgruppe für Fahrzeugdelikte ausgegliedert und als Revierdetektiv eingeteilt. (Dies nur der schönen Worte wegen.) Er ist der 19te mit dem Namen Meier und wird also Meier 19 genannt. 1967 übergibt Meier 19 der Presse Akten, die dokumentieren, wie die Behörden ungebührliche Milde gegenüber einem prominenten Verkehrssünder walten lässt - dies, nachdem er seine Vorgesetzen mehrfach vergeblich darauf hingewiesen hat. Eine Amtgeheimnisverletzung! Meier wird per sofort vom Dienst suspendiert, angeklagt und verurteilt. Er ist arbeitslos und wird jahrelang keine Stelle finden. In der ihm nun bleibenden Zeit widmet er sich einer Reihe von Gerichtsverfahren. Unter anderem ermittelt er privat im Fall des Zahltagssäckleinraubs, dessen Untersuchung längst eingestellt worden war. Er kann beweisen, dass Hubatka ein falsches Alibi angegeben hat. Meier verklagt die Verantwortlichen der Untersuchung. Hubatka klagt gegen Meier wegen Ehrverletzung. Meier klagt gegen Hubatka usw.
Meier gewinnt nicht einen Prozess.
Dafür wird Meier, für ihn als ehemals braven Fahnder wahrscheinlich recht überraschend, nun zur Gallionsfigur der Zürcher 68er Bewegung, die ja hauptsächlich unter dem damaligen Fenster von Carl Bucher tobte, Aporie berichtete. Ein Flugblatt mit dem Titel «Wir fragen schon lange: Warum wird Dr. Hubatka gedeckt?» wird in Umlauf gesetzt. Hubatka reicht deswegen, unter anderem gegen Meier 19, eine weitere Ehrverletzungsklage ein. Und so weiter. Erst 1974 endet die juristische Auseinandersetzung mit dem Urteil '3 Monate bedingt' für Meier, Hubatka geniesst noch heute sein Rentnerdasein im schönen Zürich.
Derweil zieht Meier 19 durch das Migrosrestaurant am Limmatplatz und spricht Essende und bereits Verdauende an. Auch mich, der ich hocherfreut war über die Bekanntschaft. Schlecht gehe es ihm, Sozialfall sei er und von 2500Sfr/mtl. müsse er leben. Aber er sammle Unterschriften mit dem Ziel, dass ihm die Stadt Zürich seinen Lohn bis zur Pensionierung nachzahlen müsse. Dies alles sagte er ohne Selbstmitleid, eher stolz, auf alle Fälle ungebrochen.
Meier wies mich darauf hin, dass auch meine Frau, obschon Deutsche, eine Unterschrift leisten könne, da es sich nicht um eine Initiative oder gar ein Reverendum, sondern um eine Petition handele, die Volksrechte in der Schweiz sind kompliziert und vielfältig. Ich unterschrieb. Meier meinte danach: 'Eben, es chann auch unterschreiben', hielt aber den Unterschriftenbogen mir hin. (Mit 'Es' meinte er meine Frau, eine früher in gewissen Gebieten und Schichten der Schweiz verbreitete Unsitte zur Bezeichnung von Frauen, mit der die Frau zum Neutrum gemacht wird, auf einer Stufe mit 'das Kind'). Ich verstand nicht und schaute ihn an. 'Eben, da (Meier deutete auf eine neue Zeile), da können Sie für es unterschreiben.' Jetzt verstand ich, Meier ging davon aus, dass ich als Mann die Entscheidungen für meine Frau schon recht treffen würde.
'Ach wissen Sie, Herr Meier, dass kann meine Frau ganz gut alleine'. Zweifelnd schaute er sie an und meinte: 'Ohh, das isch aber schön.'
'Meier 19, eine unbewältigte Polizei- und Justizaffaire', gibt’s übrigens als Buch und Kinofilm
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