Es war in der Woche vor Weihnachten 1991. Meine Eltern hatten mich eingeladen, mit Ihnen zusammen im Bayrischen Wald Urlaub zu machen, genauer gesagt: in Alt-Reichenau. Da ich Schnee und meine Eltern über alles liebe, sagte ich freudig zu und kaufte mir ein Paar Langlaufskier, denn das ist die bevorzugte Sportart im Bayrischen Wald. Statt Pisten gibt es dort überall Loipen, kreuz und quer gezogen durch sanfte verschneite Hügel mit Unmengen Wald drumherum. Für jemanden, der einigermaßen unsportlich ist (wie ich), ist Langlauf wesentlich gesünder, da ungefährlicher, als Abfahrt-Ski (oder wie immer das in Fachkreisen heißen mag). Es ist auch nicht vonnöten, sich in durchgestylten Kreisen zu bewegen, die auf Anhieb erkennen, ob der Skianzug aus der Kollektion des letzten oder vorletzten Jahres stammt. Eigentlich ähneln die Langlaufanzüge eher Trainingsanzügen und das ist auch gut so, denn man schwitzt und schnauft gewaltig, selbst wenn man sich auf ebener Strecke vorwärtszieht.
Gefährlich wird es dann, wenn es bergab geht, und sei es auch nur ein popeliges Gefälle von 5%, denn das Bremsen mit Langlaufskiern ist einigermaßen schwierig, zumindest für einen Anfänger wie mich. Und so erzählt man sich in Langläuferkreisen weniger von gebrochenen Beinen als von gerissenen Kreuzbändern. Wo tut man das? Abends in einer Hütte beim Bärwurz, einem wahrhaft widerlich schmeckenden Schnaps, der hauptsächlich aus Sellerie zu bestehen scheint, und dessen Name nicht vom netten Bären sondern von 'gebären' kommt, also angeblich wehenfördernd ist. Dort (also in der Hütte, nicht im Kreißsaal) saß ich dann inmitten einer Runde von 50- bis 60-jährigen, den Bekannten meiner Eltern, und kam mir bis zum vierten Bärwurz noch reichlich deplaziert vor. Der fünfte Bärwurz ließ mich dann schlagartig um 20 Jahre altern und es wurde doch noch ein gemütlicher Abend. Fragt mich aber bitte nicht, worüber man gesprochen hat.
An einem dieser Tage beschloss die Clique, die Skier daheim zu lassen und sich zu Fuß in die nahegelegene Tschechei zu begeben. Die Sonne strahlte, der Schnee blendete und wir tippelten ( so sagt man bei uns daheim zum gemütlichen Spazierengehen) in gelockerter Formation durch die wunderschöne Landschaft. Die Grenze zur Tschechei war unspektakulär, ich kann mich nicht einmal erinnern, ob es ein Grenzhäuschen gab oder nur eine Schranke, um die man herumlaufen mußte. Indes, die andere Seite sah genauso aus wie die, von der wir gerade gekommen waren, und wir hofften nun, daß wir bald an eine Gaststätte kommen würden, wo wir uns mit Suppe oder Tee erwärmen konnten.
Irgendwann wurden wir von einem älteren Herrn überholt, der stramm marschierte, wandererprobt, zünftig gekleidet. Bis heute habe ich geglaubt, daß es Carl Carstens gewesen sei. Außerdem habe ich geglaubt, daß sich das Ereignis 1994 oder 1995 zugetragen hat. Ehe ich meine Erzählung für das Forum niederschreiben wollte, habe ich allerdings Google konsultiert und mein Erstaunen war nicht gering, als ich las, daß Carl Carstens 1992 gestorben ist. Ja, Himmel! Sollte ich all die Jahre statt einer Prominentengeschichte eine Spukgeschichte im Kopf gehabt haben? Ich fing fieberhaft an, zu rechnen: wann bin ich Alt-Reichenau gewesen? Hatte ich da schon in Augsburg gewohnt? War ich nicht doch vor 1992 im Bayrischen Wald gewesen? Woran war Carstens gestorben? Nach langer Krankheit? Oder erst Ende 1992? Übrigens traurig, daß Google gerade mal zwei Links zu einem unserer (wenn auch keineswegs bedeutenden) Bundespräsidenten auflisten kann.
Es half alles nichts, ich mußte meine Eltern anrufen. Zuerst einmal versuchte ich aus Ihnen herauszubekommen, wann wir zusammen im Bayrischen Wald gewesen waren. Mama: Das war, als ich im Krankenhaus war! ³Nein, Mama, da warst du ganz fidel, glaub mir!ã Ich lag im Krankenhaus mit einem Kreuzbandriss und du hast mich besucht! ³Ja, Mama, aber das war vorher oder nachher. Als wir zusammen da waren, warst du putzmunter.ãMein Vater: Das war 1991. ³Sicher?ã (Ha, dann hatte ich doch keinen Geist gesehen! Es war Carstens! Jetzt versuchte ich, aus meinen Eltern die Erinnerung an diese Begegnung herauszukitzeln: ³Könnt ihr euch noch erinnern, daß wir bei dem Spaziergang in die Tschechei Carl Carstens getroffen haben?ã Jochen Vogel. Ich war wie vom Blitz getroffen und versuchte, meinem Vater Carl Carstens zu suggerieren, doch er beharrte darauf: Jochen Vogel. Mit seiner Frau. Nein! Mit Frau? Nicht Carstens, sondern Vogel? Und dann noch mit Frau, nicht allein? Ich war erschüttert und bin es noch. Ich sitze hier und frage mich, ob ich mich an irgendwas in meinem Leben überhaupt noch zuverlässig erinnern kann. Mich wundert gar nichts mehr. Ich wage nicht, meine Mutter nach Hermann Brood zu fragen. Vielleicht stellt sich raus, daß es doch nur die Rolling Stones waren. Und daß sie nicht nach Wodka, sondern nach Kamillentee verlangt haben.
Also: Irgendwann wurden wir von einem älteren Ehepaar überholt, das stramm marschierte, wandererprobt, zünftig gekleidet.
Als die Gaststätte in Sicht kam, sahen wir das Ehepaar durch die Tür verschwinden. Ah, geöffnet, welch ein Segen. Als wir jedoch ankamen, war kein Tisch mehr frei und wir mußten hungrig und durstig den Heimweg antreten. Auf ebendiesem sah ich noch etwas Schreckliches und etwas Trauriges: Das Schreckliche war ein Pferd, das, eingespannt in eine Kutsche, auf der vereisten Straße gestürzt und ins Geschirr verheddert, nicht imstande war, allein wieder auf die Füße zu kommen. Der Kutscher stand daneben und war dabei, das arme Pferd auszuschirren. Gottseidank hatte es sich wohl nichts gebrochen, sonst wäre ich hysterisch geworden. So heulte ich nur ein paar Tränen und ließ mich dann von der Gruppe weiterziehen.
Kurz bevor wir die Grenze nach Deutschland erreichten, sah ich etwas Trauriges: Da stand ein Mann hinter einem Tapeziertisch voller Orden und Anstecknadeln der russischen und tschechischen Armee. Er sah recht ärmlich aus und wir wohlgenährten Deutschen standen vor seinem Tischlein und höhnten über den Niedergang des Kommunismus. Pfui! Schließlich kaufte ich, nicht aus Mitleid, sondern aus sonst einem Grund zwei Plaketten, die ich auch einige Zeit am Revers trug, bis es mir albern vorkam.
Jochen Vogel, tse! Carl Carstens wäre mir lieber gewesen. Aber man soll ja nicht ohne Not lügen.
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