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Thema: Schlingensief

  1. #1
    Restaurator Avatar von Jeremy
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    Schlingensief

    Christoph Schlingensiefs Werk kann ich praktisch gar nicht beurteilen, weil ich es fast nur durch Dritte, Vierte und Fünfte vermittelt wahrgenommen habe. Zweimal ist mir Schlingensief aber nichtmedial begegnet, einmal künstlerisch und einmal alltäglich.

    Etwa im Sommer 2001, ich steckte noch tief im Größenwahn der New Economy, geriet ich über Umwege an das Projekt Hamlet X von Herbert Fritsch, der eine multimediale Hamlet-Inszenierung im Netz plante. Ungefähr zwei Wochen lang war im Gespräch, dass ich das Sponsoring dafür übernehmen könnte; das ist zum allseitigen Glück nicht passiert. In dieser Zeit gab es in der Filiale der Volksbühne in der Kastanienalle eine Art Probeaufführung, bei der die bis dahin gedrehten Videoclips mit improvisierten Hamlet-Szenen vorgeführt wurden. Ich betrat den kinoartig dunklen Raum, in dem fünfzig, sechzig Menschen standen, in diesem Moment begann Schlingensiefs Clip, in dem er den Frauenarzt von Ophelia spielt:
    http://www.hamlet-x.de/farztf.html
    Im Netz mag die Szene überdreht und eher witzig wirken; unvorbereitet, auf riesiger Leinwand, in schmerzhafter Lautstärke haben mich die acht Minuten verstört. Wenn ich später irgendwo las, dass "Theater verstören solle", musste ich an diese Szene denken.

    2008 komme ich spät ins Flugzeug nach München oder Düsseldorf oder Frankfurt, mein Platz am Gang ist neben Christoph Schlingensiefs. Wir werfen uns gegenseitig ein knappes "Hallo" zu, einfach so, ich weiss nicht, weshalb. Kurz danach ertönt das "Boarding completed", mein Handy habe ich noch in der Hand, rein technisch wäre die Benutzung noch ein, zwei Minuten erlaubt. Zu zwanzig Prozent freundlich, zu achtzig Prozent bestimmt im Ton, sagt Christoph Schlingensief zu mir: Würden Sie bitte das Handy ausschalten?"
    Ich nicke und sage: "Selbstverständlich".
    Das eventuell mögliche "Danke" bleibt aus.

    Das war mein einziger persönlicher Kontakt mit ihm; während des Fluges kann ich nicht anders, als darüber nachzudenken, aus welcher Motivation heraus er so bestimmt gesprochen hat, wäre es nicht Schlingensief gewesen, hätte ich grantiges Oberlehrertum vermutet. War es eine Pose? War es gegen meine vermutete Pose der käsigen Business-Auflehnung ("Ha, ich lasse mein Handy auf dem Flug an") gerichtet? War es, weil er mit der Erkrankung jede noch so kleine andere Gefahr für sein Leben ausschliessen wollte? War es das Bestehen auf moralischer Korrektheit? War es Metapunk? Zurechtweisungswunsch? War es einfach so?

    Als ich ein paar Stunden später zurückflog, hatte sich das Gefühl manifestiert, Schlingensief sei als Anhänger der künstlerischen Auflehnung jede kindergartige Pseudoauflehnung so zuwider gewesen, dass er sie im Keim ersticken habe wollen. An ihn denkend, setzte ich diesen Tweet ab; und mehr hatte ich nie mit Schlingensief zu tun, leider, vermutlich.
    Geändert von Jeremy (23.08.2010 um 10:11 Uhr)
    Sick nature.

  2. #2
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    Zwei Bilder sind jetzt am präsentesten.

    Wenn Christoph eine Kamera in die Hand nahm, irgendein Gerät mit einem Sucher dran, verschwand die Grundnervosität aus seinem Körper, die Augen hörten auf die Umgebung zu scannen. Seine Hände wurden virutos, die Atmung ruhig. Die Anweisungen waren leise und chirurgisch-präzise. Der Raum wurde automatisch ruhig.

    Christoph im Flieger neben mir. Die Anspannung, das unauffällige Bekreuzigen, das kurz gewisperte Gegrüßet seist Du Maria. Oder, wenns schlimm war, auch ein Vaterunser. Die Angst sich auszuliefern. Die Vaterfigur verschwimmt und ich will ihn in den Arm nehmen. Geht aber nicht.

  3. #3
    Avatar von slowtiger
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    Es war wohl im Jahr von "Menu total", also 1986, als mir Schlingensief auf der Treppe in der Lagerhalle in Osnabrück entgegenkam, wo ebendieser Film auf dem Europäischen Medienkunstfestival lief. Wir blieben kurz stehen, es war ja alles noch recht klein und familiär, und ich sagte: "Ich weiß deinen Namen jetzt nicht, aber ich glaube, ich mag deine Filme nicht." Er sagte nichts.

  4. #4
    Restaurator Avatar von Jeremy
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    Gibt es - völlig abseits der Person Schlingensief – irgendeinen vernünftigen oder unvernünftigen oder sonstwie vorhandenen Grund, soetwas zu jemandem zu sagen?

  5. #5
    Avatar von Die Wucht
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    Ja. Schlingensief meinte im Interview mit Bauerfeind, jahrelang habe er keine Angst mehr gespürt, weil die Leute ihm nicht gesagt haben, was er schlecht oder falsch macht. Das sei nicht gut für ihn gewesen.
    "Mir läuft ein metaphysischer Schauer über den Rücken."

  6. #6
    Moderater Avatar von Murmel
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    Wir haben uns halt am Telefon mal geduzt, danach hat er mich versetzt und ich deswegen Zeit gehabt, meine Frau kennen zu lernen. Dafür hätte ich mich noch bedanken wollen, verzichtete aber darauf, weil, hey, who the fuck bin ich schon?

  7. #7
    Restaurator Avatar von Jeremy
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    Du the fuck bist schon Murmel, ein leicht verbitterter Spasti aus dem Internet.

  8. #8
    Avatar von Goodwill
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    Wahrscheinlich war es im Jahr 1998, Sommer. Für einen erstmals in Berlin auszutragenden Fotowettbewerb namens Fotomarathon suchte ich Jurymitglieder. Das Hauptquartier von Chance 2000 (Motto: Scheitern als Chance) war da aufgebaut, wo heute die Fahrradständer zum Prater-Biergarten stehen. Das war praktischerweise schräg gegenüber und das Motto machte Mut.

    Auf meinen Besuch hin hieß es, ich solle eine Mail schreiben. Auf meine Mail antwortete mir eine Frau, dass man über meinen Vorschlag (CS vergibt einen eigenen Preis, bei dem nur er selbst Jury ist) mal reden könne. In der Folge stellte ich fest, dass Schlingensief zwar über keine Zeit, dafür aber über eine ungeheure Anzahl von attraktiven Assistentinnen verfügte. Ergeben und beseelt managten sie das Chaos. Obgleich zwei Termine platzten und ich CS nie direkt ansprechen durfte, ging es mit meinem Anliegen voran. Es sollte nur um ein einziges von 24 Foto-Themen gehen, "Euphorie". Sogar ein kleiner Schlingensief-Extra-Preis sprang raus: Zwei Eintrittskarten für eine Wahlkampfveranstaltung in der Volksbühne.

    Heikel war nur, dass die Jury-Arbeit genau in die Woche des Wolfgangssee-Badens fallen würde. Doch auch für dieses Problem überlegten die Assistentinnen eine Lösung. Ich sollte einen ganzen Packen mit vorausgewählten Fotos beim Prater abgeben. Die Bilder würden dann im Flugzeug mitgenommen, vor Ort jurifiziert, eventuell gebadet und am nächsten Tag wieder nach Berlin fliegen, wo ich sie in der Parteizentrale abholen könne.

    Genau so geschah es. Von den etwa dreißig "besten" Bildern, die die Reise antraten, trugen hinterher vier eine hingekritzelte Nummer auf dem Rücken. Die Fotos zum Thema Euphorie zeigten so Sachen wie Feuerwerke aus Lichtpunkten, Hände, die sich einen Highfive gaben, schicke Reflexionen im Rotweinglas oder glückliche, springende Menschen. Als ich das Foto mit der 1 sah, war ich mir relativ sicher, dass CS tatsächlich selbst ausgewählt hatte. Es zeigte eine Frau, die mit ihrem Hund aus der Nacht auf die Kamera zukam. Der Blitz riss beide nur so wischiswaschi aus der Finsternis. Die Augen der Frau leuchteten rot, die des Hundes grün. Es war ein gelungen verunglückter Schnappschuss.

  9. #9
    Abebe Lowumbo Avatar von joq
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    Ich sollte im Jahr 2000 für eine Zeitung ein Interview mit ihm machen. Die Terminvereinbarung gestaltete sich schwierig, weil er zu der Zeit beinahe ausschließlich über ein komisches Gerät namens Quix kommunizierte, eine Art Pager. Irgendwann bat ich ihn um einen Menschenrückruf, was er so umgehend tat, dass ich höllennervös wurde und ihm Termine vorschlug, an denen er nicht konnte und mich völlig unflexibel zeigte. Das Interview platzte daraufhin und im Nachhinein ist es gut so, denn wenn ich heute die Fragen lese, die ich ihm damals stellen wollte, wird mir jetzt noch kotzübel vor reiner, ungefilterter Selbstscham.
    More gin in teacups

  10. #10
    Member Avatar von Polykrates
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    Nachdem ich am Samstag erfahren hatte, dass er gestorben ist, holte ich eine Kiste aus dem Keller, in der ich Zeugs aus den Jahren in Berlin verstaut hatte. Darin war viel Schönes, an das ich lange nicht gedacht hatte, unter anderem ein geschundener Zettel mit seltsamer Aufschrift. Mir fiel es dann wieder ein: Wie ich 1997, als wir "Schlacht um Europa" probten, mit Schlingensief geschimpft hatte, weil er einen Bühnenprobentag hatte ausfallen lassen. Am nächsten Morgen steckte dann dieser Zettel in meiner Mappe: "Attest - Christoph war krank! - Dr. Eisenbart - Stempel - Charité".
    Und nur aus Spaß: Das Interview wolltest Du früher führen, joq. Sein Quix hat Schlingensief 1997 verschenkt, es war auch in der Kiste.
    Geändert von Polykrates (23.08.2010 um 22:30 Uhr)

  11. #11
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    ...
    Geändert von Saposcat (04.12.2010 um 06:37 Uhr)

  12. #12
    Moderater Avatar von Tobi Wahn
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    Karl ist ziemlich genau 20 Jahre älter als ich und einer meiner alten Freunde, mit dem ich jahrelang den Mittagstisch eines italienischen Mittelklasserestaurants in der Innenstadt besuchte. Daran, dass er beim Essen gerne von seinen - häufig eingebildeten - Krankheiten erzählt, oder mitten im Satz verstummt, um mit offenem Mund einer vorbeilaufenden Frau auf die Brüste zu starren, hatte ich mich im Laufe der Zeit derart gewöhnt, dass ich mich heute noch daran erinnere, wie begeistert er an einem Nachmittag von Christoph Schlingensief zu erzählen begann. Dass er dessen Prozession der "Church of Fear" durch irgendein mittelhessisches Kaff gefolgt sei, ihm, wegen dessen schmerzhafter Überbelastung des Fußknochens, einen Bollerwagen besorgt, ihn dahinein verfrachtet habe und ihn die größte Strecke des Weges hinter sich her gezogen habe.
    Außerdem sei er deswegen jetzt vom Großmeister und Papst persönlich zum Bischof der nun zu gründenden mittelhessischen COF-Gemeinde ernannt worden.
    Keine Frage, dass wir, Bischof und unfreiwillig erstes Schaf, zu der am Abend in Frankfurt stattfindenden Aktion würden hinkommen müssen.

    Ein bisschen bekifft und komplett planlos, wer oder was mich an der Hauptwache erwarten würde, stand ich irgendwann nachts vor dem nachgebildeten Esel mit dem COF-Transparent um den Körper und betrachtete Schlingensief, der, umgeben von 15 besorgt und bemühten Assistentinnen eine Rede hielt. Auf aufrecht stehenden Baumstämmen, die an ihrer Spitze mit bequemen Sitzen ausgestattet waren, saßen drei Obdachlose, die mit irgendeinem scheinheiligen Preis zu diesem Pfahlhocker-Wettbewerb gelockt worden waren.

    Schlingensief zuhörend etwa 20 zufällige Menschen, die nicht zu seinem Tross gehörten und sich entweder über die "menschenverachtende Aktion" aufregten oder darauf spekulierten, irgendwoher jetzt bald Bier umsonst zu bekommen.
    Hinter der Szene des schwadronierenden Aktionskünstlers mit seinem Publikum eine aus Blech gebastelte Kapelle, in der man der Angst - in Form eines ausgestopften Hasens - huldigen konnte, wenn man wollte.

    Karl, mein neuer Bischof, lief, in einer kurzen Predigtpause, freudestrahlend auf seinen neuen Messias zu, der ihn jedoch schnell mit einer ungeduldigen Handbewegung abschüttelte. Offenbar hatte er gerade keinen Bock auf Altjünger oder erkannte ihn vielleicht auch einfach nicht wieder.

    Ich probierte meine neue Kamera aus und schoss diskret eine Reihe komplett unbrauchbarer Bilder ohne Blitz, der COF-Aufkleber pappt dafür immer noch an meinem Büromülleimer.

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