Ich sehe ihn noch, wie er die Mattscheibe füllt mit seinem gedrungenen Körper und der runden Murmel auf seinem Hals. Da hatte ihn der HSV gerade zum Präsidenten ernannt, ein folgenschwerer Fehler für Uwe, wie es sich kaum ein paar Monate später erweisen sollte.
Auf dem Trainingsgelände des HSV in Norderstedt, einer schleswig-holsteinischen Warze am Kopfe Hamburgs, wo der HSV sein eigentliches Zuhause hat, dort also saß Uwe Seeler so locker wie es eben geht mit seinem irgendwie steifen Körper auf dem flachen Podest einer "ran"-SAT1-Fußballkamera und lächelte. Irgendwer stellte die Frage, Uwe begann jeden Satz mit "Ich sach ma'..." und das alles war noch so, wie es jeder erwartet hatte.
Dann aber wurden die Fragen kniffliger, Uwe wußte nicht so recht, das Lächeln gefror, bröckelte ab und wich einer unmaskierten Verunsicherung, die der Größte unter den kleinen HSV-Kickern mit einer herzerweichenden Verlegenheitsgeste zu überspielen versuchte. Sein Unterbewußtsein lenkte seine rechte Hand, während die linke das Mikro hielt.
Während also Uwe albernen Irrsinn in die linke Hand plauderte, kratzte ihn die rechte an seinen Hoden, unablässig. Der Kamera-Mann besass keine Contenance, keinen Funken Anstand im Leib, er hielt drauf, nein, er zoomte sogar auf einen größeren Bildausschnitt, anstatt Uwe im Portrait zu nehmen und die Eierkratzerei auszublenden.
Es sind und waren Auftritte wie diese, die aus Seeler einen Honk gemacht haben. Und das ist traurig, nicht komisch.
Das Schicksal hat mich in diesen Tagen nach Norderstedt getragen. Reden wir nicht darüber. Wenigstens konnte ich bei einem alten Studienkollegen vorbeischauen, Steve, der sich mittlerweile bei einer Versicherung seinen Unterhalt verdient. Wozu er da Soziologie brauche, fragte ich ihn. Damit ich besser Leute bescheissen kann, antwortete er.
Die haben ein ganz schickes, lichtes Büro da, in dieser Versicherungsagentur. Steve ist überrascht, als ich so einfach reinplatze, er wirkt geschäftig, erwachsen, ernst, scheiße.
Bei einer Zigarette im "Kaffeestübchen" erzählt er mit einer aufgesetzt beiläufigen Art: "Du, der Seeler-Uwe kommt gleich vorbei. Wir haben bei unserer Weihnachtsfeier gesammelt, irgendwie 2000 Euro oder so, die geht in die Seeler-Stiftung und er holt das persönlich ab, krass, näh?! Kannst ja bleiben und einen Kaffee mittrinken?"
Seeler kommt also rein und ist genauso wie im Fernsehen, wie auf Bildern oder wie in alten WM-Bildbänden. Seeler ist wahrhaftig, 100 Prozent. Ein ähnliches Gefühl hast du nur, wenn du im Disneyworld von Orlando Puhh-Bear triffst.
"Moin, Seeler!", sagt er und reicht mir die Hand. Fester Händedruck, trocken, kleine, kurze Finger, ebensolche Nägel, gefeilt und gepflegt. Der Kontrast zu einer abscheulichen adidas-Plastikuhr mit Pulsmessfunktion an seinem dicken Handgelenk könnte kaum größer sein.
Steve mimt den weltgewandten Gastgeber und scheitert, als er Seeler beim Kaffee-Einschenken die Plörre in die Untertasse lullert. "machdonööx, machdonööx!" sagt Uwe, nimmt die Dinge und vor allem die Kaffeekanne in die Hand - ja, in jene die damals seine Eier kratzte - und schenkt allen ein.
Dann geht das Gerede los, über den HSV, die Versicherungstypen samt Steve sind natürlich HSVer, norderstedtstyle. Ich hatte in dieser Stadt mehrmals ein St. Pauli-Shirt getragen, wurde bei einem Bäcker deswegen nicht bedient. Also hielt ich die Schnauze. Seeler nickt zu all dem trivialen Dünnsinn, den die selbsternannten HSV-Analysten da von sich lassen („einfachaumaabziehen vorm tor, der romeo hierunso, näh!“, „nich soviel tamtam, zackzack nach vorne, wiefrüherusnUwe, näh, Herr Seeler?!“...Steve).
Es ist langweilig, nein, peinlich.
„Wie haben die eigentlich gegen Freiburg gespielt?“ fragt Uwe Seeler plötzlich. Ein Mann, in dessen Brust ein Herz in Rautenform schlägt, kennt nicht das Ergebnis der letzten HSV-Bundesliga-Partie? Er sagt „die“ und nicht etwa „wir“, so wie Franz Beckenbauer, wenn er von den Bayern redet? Und viel schlimmer: Er war nicht im Stadion?
„3:1, aber der SCF hat um jedes Tor eine hübsche Schleife gemacht“, sage ich (SCF-Fan!!) und blicke ihn fragend an. Er sagt: „Drei Punkte sind drei Punkte.“ Er scheint meine Verwunderung über seine Uninformiertheit zu spüren und beginnt sich zu rechtfertigen. „Ich geh da nicht mehr so hin, bin nicht mehr so nah an der Mannschaft. Wenn ich im Volkspark (ja, er sagt Volkspark) gewisse Leute treffe, bekomme ich das große Kotzen - ich kann das ja mal so sagen, jetzt, wo niemand von der Presse da ist. Aber dieses ganze Vorstands-Volk macht mich krank. Was haben die mit dem Verein bloß gemacht.“
Die Versicherungsfutzis schauen ungläubig, weil sie natürlich finden, dass das also ganz oberprima läuft, jetztso mit dem Toppi undso, wir sind wieder wer und wir weeerden doiiitscher meister. „Ja, schlimm!“ schießt es Steve heraus, so dass jeder merkt, dass er nicht richtig weiß, was er schlimm finden soll.
Gut, dass Uwe jetzt abschweift. Wir sind in Schweden. Am 26. September 1965 in Stockholm. Seeler tritt mit der Nationalmannschaft zur Quali für die WM 66 an. 2:1, Seeler trifft. Sein Debut gibt damals Franz Beckenbauer. „Ich seh den Franz da noch sitzen. Hab ihm gut zugeredet. Er war ja so ein schmaler Bursche.“ Die kleinen runden Seeler-Augen blicken starr ins Nichts, Steve beißt in einen bröselnden, dänischen Schokoladenkeks und ich wünsche mir eine wundersame Projeziermaschine, die mit viel Kabelwerk am Gehirn Uwe Seelers justiert wird und die Bilder, die dieser kleine Mann in seinem Gehirn gespeichert hat, an eine Wand wirft. Er erzählt weiter, von ´66, vom Wembley-Tor, dass natürlich nicht drin war, von seiner Heulerei auf dem Spielfeld und dass er in der Nacht noch einen zweiten Heulkrampf bekam. Von Mexiko ´70 und wie heiß es da war, was für schnellen, technisch guten Fußball gesorgt hatte, weil keiner laufen wollte.
Ich klebe an den Lippen Uwe Seelers und mein Respekt kennt keine Grenzen. Ich bin neidisch auf diese Bilder in seinem Kopf. Ich finde sein dunkelbraunes, hahnentrittgemmustertes Sakko brechreizerregend. Gerade deswegen und wegen der Kratzerei an den Eiern vor Millionenpublikum hatte ich nicht soviel Souveränität erwartet. Seeler gibt „Uns-Uwe“ als Rolle. In Wirklichkeit ist er ein scheissecooler kurzer Mann, der für adidas seit 40 Jahren erfolgreich noch an den letzten zweifelnden Hinterhof-Sporthändler die aktuelle hip-hop-Streetfucking-wear verkauft. Die Bilder in seinem Kopf sind die Plateauschuhe seines Charismas.
Im Aufzug nach unten stehe ich allein mit Seeler. Ich habe vergessen, mich von Steve zu verabschieden. „Haben sie eine Autogrammkarte?“ frage ich. Seeler hat Autogrammkarten in einer schwarzen Mappe mit drei weißen Streifen an einer Ecke und dem Schriftzugg adidas. „Das ist ehrlicher, als Kahn mit seinem Gucci-Teil“, sage ich. Seeler sagt: „Nicht ehrlicher. Besser verarbeitet und praktischer.“
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