Die Oberbaudirektion in München hat einen kleinen Makel: Sie sitzt im hässlichsten 70er Jahre Bau der Stadt. In eben diesem Betonberg befindet sich auch ein Lokal namens „Ryles“, die geraden Linen des beherbergenden Baus aufgreifend, ja sogar rettend. Es macht einen schlichten, wenn nicht gar „stylischen“ Eindruck. Außerdem bietet es viel Platz und eigentlich auch Ruhe. Vor ungefähr einem Jahr, im Winter 2002/03 verbrachten wir einen Sonntagabend in eben diesem Etablissement, den ich im Folgenden zu rekapitulieren versuchen werde:
Die Stimmung ist ausgelassen, denn während der Anreise zu diesem Lokal wurde noch das aktuelle Programm auf Radio Horeb verfolgt. Seelenberatung für Damen ab 60, moderiert von der tiefsten Stimme Deutschlands. Der Tonqualität nach zu urteilen, scheint man live aus dem Altglascontainer zu senden.
Am Tisch neben uns haben es sich zwei Damen um die 20 bequem gemacht, die ihr sinnfreies Starnberger-See-Geplapper einstellen, um die einzelnen Buchstaben der Speisekarte zu entziffern und anschließend daraus Worte zu formen. Das Ergebnis trägt man sich gegenseitig vor.
Der Raum ist länglich, das Licht gedämpft. Aus den Augenwinkeln beobachte ich eine Frau, die, um graziles Gehen bemüht, Kurs auf die Toiletten nimmt und somit unseren Tisch und den der beiden Damen neben uns passieren muss. Arabella Kiesbauer. Sie kommt näher, ich überlege: Was ist interessanter? Die Talk-Lady auf dem Weg zur Toilette? Oder die Reaktion der beiden Hohlnudeln am Nachbartisch? Entscheide mich für letzteres, auch da ich Frau Kiesbauer nicht belästigen möchte. Es entsteht Unruhe und Aufregung am Nachbartisch als die ProSieben-Plauderin vorbeistöckelt. Dann beraten sich die beiden Talkshow-Konsumentinnen und überlegen, was für einen Empfang sie der aus der Toilette Zurückkehrenden bereiten sollten...
Es vergeht eine kleine Ewigkeit, Frau Kiesbauer erscheint nicht. Was sie wohl da drinnen treibt? Gibt es dort einen zweiten Ausgang? Ob man einen Arzt rufen sollte? Nein, Gott sei Dank, sie taucht dann doch wieder auf. Und passiert den Tisch der beiden jungen Damen, von denen eine prompt ein „Hallo, Arabella!“ ausstößt. Die angesprochene Arabella bleibt stehen und feuert einen Blick ab, der eigentlich das ganze Selbstwertgefühl der damit bedachten Dame für immer zerstört hätte haben sollen. Doch sie grinst nur und stiert weiter. Arabella setzt zu Stufe zwei des Demütigungsvorganges an: „Kennen wir uns?“ kommt es bitter-süß über ihre Lippen und ohne die Antwort abzuwarten kehrt sie zu ihrem Tisch zurück um daraufhin gleich das Lokal zu verlassen. Begleitet wird sie von einem, wohl um die zwanzig Jahre älteren Herren und einer gleichaltrigen Freundin samt Freund. Die Freundin und Arabella sind in derart monströse Pelzhaufen gehüllt, dass mich eine leichte bis starke Übelkeit beschleicht. Sie nehmen Kurs auf die auf der gegenüberliegenden Straßenseite beheimate Party- und Bussibude P1.
Nach einiger Zeit hat man sich auch am Nachbartisch wieder gefangen: „Dabei war ich doch bei Arabella in der Sendung“. Was für ein schöner Abend.
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