Es war documenta-Sommer 2002 und ich saß an einem Freitagnachmittag im Interregio, den es damals noch gab, auf dem Weg nach Kassel. Unter der Woche arbeitete ich zu der Zeit in Bielefeld. Dunkle Monate. Umsteigen musste man in Altenbeken, einem Nest irgendwo mittendrin im Wald, seit der Umwidmung der Interregios in ICEs samt zugehöriger Verteuerung bei einem Zeitgewinn von gerade einmal zwei Minuten auf dieser Strecke inzwischen der kleinste ICE-Bahnhof Deutschlands.
Die Züge aus dem Ruhrgebiet waren meist schon überfüllt, wenn sie einfuhren, und ich konnte froh sein, einen der letzten Plätze gegenüber einem jüngeren Mann mit Zopf und einem älteren Mann mit Halbglatze zwischen einem Kranz aus lockigen rötlich-grauen Haaren erwischt zu haben. Beide waren in Bücher vertieft, beim Jüngeren handelte es sich um eine Einführung in eine Programmiersprache, beim Älteren um einen Bildband in Englisch. Der Ältere schielte jedoch permanent zu seinem Nachbarn und man sah ihm an, dass er auf eine Unterhaltung aus war, die er auch bald begann. Er sprach den jüngeren auf deutsch mit jenem Akzent an, den schlechte Schauspieler oder Laien verwenden, wenn sie US-amerikanische Touristen darstellen sollen. Bei ihm war er aber offensichtlich echt. Er komme aus den USA, habe aber einige Zeit in Hamburg gelebt und gelehrt, spreche daher ein wenig deutsch. Philosoph sei er, beschäftige sich aber heute hauptsächlich mit Computersprachen. Nun sei er auf dem Weg nach Kassel, um die documenta zu besuchen.
Er stellt sich namentlich vor und empfiehlt seinem Nachbarn ein Buch, das er vor einigen Jahren geschrieben habe und das zu den bedeutendsten Werken in der Philosophie gehöre und für jenen, der im Begriff sei, ein Informatikstudium aufzunehmen, von besonderem Interesse. Autorenname und der Buchtitel sagen mir nichts. Er hat alte Turnschuhe an und trägt eine unmögliche gelbe Turnjacke über einem ungebügelten, karierten Hemd an. Im weiteren Verlauf der Stunde bis Kassel wird der Nachbar fortgesetzt mit Beschlag belegt und ich bin froh, mich weiter in mein Buch (Klausen – aber nicht Murmel, haha) vertiefen zu können, das mich für sprachphilosophische Anwürfe immun macht. Bei der Ankunft in Wilhelmshöhe verabschiedet er sich per Handschlag von seinem sichtlich erleichterten Nachbarn und zieht sein schäbiges Rollköfferchen die Rampen nach oben, die deshalb so breit und flach sind, weil die ursprüngliche Planung Ende der 70er vorsah, dass die Reisenden mit dem Auto auf den Bahnsteig gebracht werden können – sozialdemokratischer Fortschrittswahn. Apropos: Hans Eichel verabschiedet sich hier Sonntagsnachmittags immer von seinen Söhnen und der Neuen, einer Bierbrauerstochter, bevor er ohne erkennbaren Personenschutz mit dem ICE in die Hauptstadt fährt.
Zu Hause angekommen setze ich mich an den PC und google nach dem Namen, was schwierig ist, weil ich nur die akustische Version abgespeichert habe und schließlich darauf komme, dass der Vorname wohl aus der Bibel stammen muss. Nach einigen Versuchen lande ich den Treffer: Er ist in seinem Fach tatsächlich sehr bekannt, gilt als lebende Legende und hat sich vor vielen Jahren eine weltweit beachtete wissenschaftliche Kontroverse mit den Epigonen eines der ganz Großen der Zunft, einem ursprünglich deutschsprachigen, geliefert. Privat soll er eher schwierig sein. Eine seiner Studentinnen hat er geheiratet, die es jedoch nur kurze Zeit bei ihm aushielt, ihn verließ und ihre Erfahrungen in einem lesenswerten Campus-Roman verarbeitete, in dem ihr Verflossener aber als Mathematiker porträtiert wird. Der Titel des Romans beschäftigt sich, wie der Paparazzte in seinem Werk, mit dem Verhältnis von Abstraktem zu Konkretem.
Und nachdem mir bei der Jessica-Geschichte letztens nachgesagt wurde, mein Duktus erinnere an Tratschke aus der ZEIT, frage ich die Leser/innen diesmal ganz bewusst: Wer war’s, dem Biller gegenüber saß, und wie heißt der Roman über ihn? Googeln ist erlaubt.
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