Es ist Mittwoch, der 07. Mai 2003, gegen 20.00 Uhr. Ich befinde mich in der U-Bahn in Berlin, genauer in der Linie 8 in nördlicher Richtung. Ich muss stehen, der Waggon ist voll. Etwa an der Station Heinrich-Heine-Strasse bemerke ich einen Mann, der auch steht, etwa fünf Meter von mir entfernt, und mich anstarrt.
Warum starrt er mich an? Vielleicht, weil ich in der U-Bahn eine Sonnenbrille aufhabe. Ich nehme sie ab, ich hatte sie schlicht vergessen. Er starrt weiter.
Bekleidet ist er mit einer dunklen Hose, dunklen Lederschuhen. Er trägt einen Ledergürtel. Sehr markant ist eine Army-Gürteltasche von überdimensionalem, rucksackartigem Ausmass. Es scheint mir eine DDR-Army Tasche zu sein. NVA, richtig, so heisst das, kommt mir in den Sinn. Die Farbe der Tasche ist oliv-ausgewaschen, und es sind viele senkrechte kleine braune Striche drauf.
Unter die Klappe der Gürteltasche, ja so gross ist die Gürteltasche, ist eine Plastikwasserflasche geschnallt.
Der Mann hat kurze braune Haare, eine runde Brille, die Gläser lassen seine Augen habichtig klein erscheinen. Entweder ist er gut rasiert, aber hat enormen Bartwuchs, oder er ist miserabel rasiert, aber hat langsamen Bartwuchs. Wahrscheinlicher ist das erste. Er hat ein eher fliehendes, kleines Kinn, ein Kinnchen quasi; es sieht etwas aus, als wäre er kinnlos geboren und hätte aus Versehen eine Damenkinnprothese eingepflanzt bekommen.
Der Mann trägt ein weisses T-Shirt. Darauf ist eine wirre schwarz-weisse Zeichnung von einem Wesen in Raumanzug mit Antennen auf dem Kopf. Über dem Bild steht „protected by“ und darunter „radio frequency weapons“. Auf Brusthöhe hat der Mann einen Anstecker, rot, ein Dreieck, das auf dem Kopf steht.
Meine Gesamterscheinung ist eher unauffällig, seitdem ich die Brille abgenommen habe, trotzdem starrt er mich weiter an. Ich habe Kopfhörer und fuchtele von Zeit zu Zeit mit dem dazugehörenden MP3-Player herum. Das ist es wohl, was den elektromagnetisch veranlagten Mann interessiert.
Er steht da in Alarmbereitschaft. Er könnte jederzeit losspringen, er hält sich mit beiden, ausgestreckten Armen fest, die Beine sind leicht angewinkelt, er würde in jeder Betriebs-Rückenschule Bonuspunkte sammeln. Seine Augen sind sehr dunkel und die Augäpfel bewegen sich nicht. Er zuckt nicht mit den Lidern, er scheint keine Atembewegungen zu machen. Seine Welt hört direkt dort auf, wo seine Umwelt anfängt. Er ist ein in sich geschlossenes System. Er hat etwas Bedrohliches. Er weckt bei mir die Sorte Unbehagen, das man entwickelt, wenn das Gegenüber die ganze Zeit ganz dicht an einem vorbeiguckt. Etwa auf das eigene Ohr. Genau das Unbehagen ist es.
Alexanderplatz. Der Mann kommt auf mich zu, durch den schmalen U-Bahn-Mittelgang, fixiert mich weiter, ich rühre mich nicht, noch zwei Meter, dann ist er bei mir, noch anderthalb, ein Meter, er steuert auf mich zu, ein halber Meter, er geht an mir vorbei. Streift mich mit dem Ellenbogen, unabsichtlich. Ich zucke trotzdem etwas zusammen, man weiss ja nie. Unheimlicher Kerl. Ich drehe meinen Kopf. Hinten auf seinem T-Shirt steht: www.totalitaer.de.
Es durchzuckt mich. Das muss Markus Bott sein! Er muss es sein. So habe ich ihn mir vorgestellt, ich sehe das T-Shirt mit der Website und würde sofort alles verwetten, was ich habe. So sieht also ein Mensch aus, der hochgradigst von Verfolgungswahn geplagt wird. Ich bin noch im Nachhinein aufgeregt.
Am selben Abend husche ich ins Netz, totalitaer.de, dort ist ein Foto, jawohl, das war Markus Bott. Und ich fuhr mit ihm zwei Stationen mit der U8. Hoffentlich hat er mich nicht mit Radio-Strahlen vergiftet.
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