Martin Schwab
Ein nettes konsensfähiges Paparazzi-Gschichtl aus der Welt des Theaters, das ich gerne gekürzt hätte, aber ich weiß nicht wo
Folge 1
Seit die VIP-Dichte in Berlin ins Unermeßliche gestiegen ist, bekommt man als Normalmensch kaum noch Karten für das alljährliche Berliner Theatertreffen. Die Vorbestellung ist so kompliziert wie das Kommunalwahlsystem in den südlichen Bundesländern (panaschieren und kumulieren), nur bekommt man nie das, was man ankreuzt. Natürlich bekommt man auch nicht das, was man nicht ankreuzt.
Auch im letzten Jahr war das schon so und deshalb ging ich am Vorabend der Eröffnung zum Festspielhaus in der Schaperstraße, um zu sehen, wie sich die Kartensituation vor Ort darstellte. Man hört ja immer irgendwas, oder wenigstens kann man gemeinsam jammern und lernt so interessante Menschen kennen. Tatsächlich hatte sich bereits eine Gruppe von Enthusiasten eingefunden, die entschlossen war, die kühle Aprilnacht im Freien vor der Kasse zu verbringen. Das ist ja Teil der berühmten Festivalatmosphäre, die man als Abonnent das Jahr über so nicht erleben kann. Wie sich herausstellte, war es aber gar nicht nötig zu übernachten. Ein beleibter Herr mit unmißverständlicher Autorität hatte das in die Hand genommen (Ick orjanisiere det hier...!) und verteilte Zettel mit Wartenummern an die Anwesenden, wie beim Arbeitsamt. Die könne man, wie er sagte, am nächsten Morgen an der Kasse gegen offizielle Nummerzettelchen tauschen, die dann wiederum an der Abendkasse aufgerufen werden würden. Ganz schön pfiffig! Leider war ich bereits der 183ste, wirkliche Insider waren wohl schon am Nachmittag gekommen. Oder der beleibte Herr hatte einen großen Freundeskreis.
Am nächsten Tag erschien ich ohne übertriebene Hoffnungen wieder vor der Kasse. Der dicke Herr hatte Wort gehalten. Die Organisation klappte hervorragend, 10 Minuten vor Aufführungsbeginn war man schon bei Nummer 120 angelangt. Bei dieser Zahl war man aber auch schon vor 20 Minuten gewesen. Es tat sich nichts mehr, weil das Kartenkontingent der Abendkasse jetzt über Computer von jeder Theaterkasse Berlins abgerufen werden konnte, wie man uns wissen ließ. Anstehen an der Abendkasse war obsolet geworden im 21. Jahrhundert. Nur nicht abgeholte Karten gab es nur hier, und die waren vor 20 Minuten vergeben worden. Vielleicht habe ich das System aber auch immer noch nicht wirklich verstanden, das kann sein. Viele waren jedenfalls schon enttäuscht wieder abgezogen oder versuchten vor dem Gebäude ihr Glück. Ich habe mir aber angewöhnt, in solchen Situationen (in die nicht selten gerate, weil ich meistens zu lange rumüberlege) mit stoischen Gesicht stehen zu bleiben bis zum bitteren Ende. Man weiß nie, was passiert. Außerdem kann ich das durchaus genießen: Diese Spannung in der Luft , bevor es anfängt, das überfüllte Foyer, gemischt aus Normalos, Professionellen und den üblichen Prominenten (Hier: Sander, Rott, Karasek). Manchmal auch wirklich schöne Menschen, in der Regel Frauen.
Neben mir zum Beispiel steht schon seit geraumer Zeit eine schlanke und kultivierte Dame mittleren Alters, die mit allerlei interessanten Gegenständen behängt ist. Aber keineswegs so grell oder so grau wie die sogenannten Frontfrauen der Berliner Republik, sondern mit Geschmack und nicht übertrieben perfekt. Schwarze, vielleicht schon graue Locken, schmales Gesicht, große dunkle neugierige Augen, die unruhig über die Menge wandern. „Na, auch ein Zettelchen bekommen?“ frage ich auf gut Glück so von Hoffnungslosem zu Hoffnungsloser. Irritiert flackert ihr Blick auf, wie ertappt. „Zettelchen? Nein.“ Leicht österreichischer Akzent. (Ich ahnte es.) Sie sagt nicht, warum sie so ganz ohne Zettelchen in der Schlange der Hoffnungslosen steht, stattdessen befragt sie mich. Warum ich denn ausgerechnet in diese Aufführung - „Glaube und Heimat“ vom Burgtheater Wien, Regie Martin Kusej - gehen wolle? Ob ich denn oft in Berlin ins Theater ginge? Was ich denn im letzten Jahr gesehen hätte? Langsam komme ich mir ein bischen vor wie im Verhör. Ich sage, ich hätte im letzten Jahr eine andere Kusej-Inszenierung gesehen, „Geschichten aus dem Wienerwald“ vom Thalia Theater Hamburg. Die hätte mir in ihrer deprimierenden Hoffnungslosigkeit zwar nicht gefallen, sei aber doch sehr beeindruckend gewesen, vor allem das geniale Bühnenbild, ein graubraunes kloakenartiges Wien mit echtem wasserführendem Abwasserkanal, erhellt nur durch die Wasserreflexe an der Wand. Plötzlich scheint ein Ruck durch sie zu gehen, die suchenden Augen kommen zur Ruhe. „Ich gebe Ihnen eine Karte!“ sagt sie. Eine Karte! Das ist dieser kleine Moment, wo sich alles zu lohnen scheint, all die Mühen, der Schweiß, die Tränen. Jedenfalls im Mikrokosmos dieses Foyers. Auch wenn mir klar ist, daß dies nicht der Moment ist für kritische Nachfragen, eine Frage liegt mir auf der Zunge: Warum dieses vorgeschaltete Verhör? Hätte man das nicht leichter und vor allem schneller haben können? Irgendeinem halbwegs gut erzogen wirkenden Normalo (daran herrscht hier kein Mangel) die Karte in die Hand drücken? Ich frage aber lieber nicht. Da sagt sie von sich aus, und es klingt wie eine Erklärung auf meine Frage: „Ich bin nämlich die Frau von Martin Schwab!“ (Große Denkblase über meinem Kopf: Martin Schwab? Wer um Gotteswillen ist Martin Schwab?) „Ach!?!“ sage ich beindruckt. Sie: „Sie kennen ihn?“ Ich: „Mm-hm!“ (kombiniert mit anerkennendem Augenbrauenhochziehen). Dann blicke ich schnell auf die Uhr: „Gott, ich glaube das Stück fängt an, sollten wir da nicht wirklich reingehen?“
Martin Schwab spielt eine Hauptrolle im Stück, einen alten Bauern – gottseidank gibt es Programmhefte. Ein Schwab-Sohn hätte mitkommen sollen, war aber wegen einer Uniprüfung verhindert. Was sie gesucht hatte, war wohl ein kongenialer Sohnersatz gewesen, ein mittelloser Theaterenthusiast, konversationsfähig. Also ich. Eigentlich sogar ein Student, wie sie mir in der Pause verriet. Ich war sozusagen professionell gecastet worden.
Sie blieb den ganzen Theaterabend über an meiner Seite. Zu den professionellen Theaterleuten hielt sie Abstand, wie mir schien, obwohl sie die meisten kannte. Sie war selbst Schauspielerin gewesen, hatte den Beruf aber aufgegeben, um die Kinder zu erziehen und ihren Mann bei seinen wechselnden Engagements zu begleiten. Leicht war ihr der Abschied sicher nicht gefallen. Sie jammerte aber nicht. Sie kannte alle Details der Aufführung und liebte das Theater, das war klar. Ganz vertraut plauderte sie aus ihrem Leben, als sei ich der echte Sohn. Sie hörte aber auch mit lebhaftem Interesse zu. Alles in allem die ideale Theaterbegleitung. Ich hätte sie auch gecastet.
Die Plätze waren übrigens etwa zehnte Reihe, Parkett. In den ersten Reihen wäre man naß geworden, denn das Bühnenbild war ein technisches Meisterwerk an Düsternis und Weltverneinung: Während des ganzen Stückes regnete es auf die graubraune Bühne, die sich so in einen Sumpf namens Österreich verwandelte. Nach der Aufführung verabschiedeten wir uns herzlich.
P.S.:
Natürlich kannte ich Martin Schwab DOCH. Nicht dem Namen, aber der Rolle nach. Er ist ein Burgschauspieler erster Klasse, der den Peymann gespielt hat in dessen eigener Bernhard-Inszenierung „Klaus Peymann kauft eine Hose und geht mit mir essen". Er ist der Typ Schauspieler, bei dem man sich an die ROLLE erinnert und nicht an den Schauspieler, weil er nämlich keine eigene Masche hat, keinen Sprachtick, keine originelle Physiognomie. Er ist immer anders, einmal der größenwahnsinnige Peymann („Den GANZEN Shakespeare an EINEM Abend!“), das andere Mal (so wie in „Glaube und Heimat“) ein altes gebücktes verschlagenes Bergbäuerlein am Stock. Schauspieler wie er werden nie „Promistatus“ erreichen, man erkennt sie auch nicht auf der Straße.
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