Prélude
Es war zu jener Zeit, als ich noch an meine künstlerische Mission glaubte. Ich wollte die musikalische Welt mit meinen Cello-Künsten beglücken, die Klassik-Aficionados mit meinem edlen Ton zum Schluchzen bringen. Soviel Motivation war selten in meinem Leben: statt Kunstgeschichtlerinnen auf den allgegenwärtigen Uni-Feten anzuknabbern, übte ich bis spät in die Nacht Etüden, Solostücke und Orchesterstellen. Es war eine Zeit des calvinistischen Verzichts – der Lohn sollte später folgen, in Gestalt von jubelnden Philharmonien, akklamierenden Tonhallen, begeisterten Musikvereinssälen.
Allemande
Aus einer puren Laune heraus hatte ich mich auf eine Stelle als Cellist bei der Münchner Staatsoper beworben. Die Anzeige in dem einschlägigen Fachblatt „Das Orchester“ war ganz putzig formuliert – da war zunächst die Rede vom hohen Freizeitwert der Stadt; davon hatte ich mich bei diversen Abstürzen im „Park Café“ bereits überzeugen können. Außerdem hatte ich das geforderte Vorspiel-Stück, Haydns D-dur-Konzert, recht gut parat. Allerdings: ich rechnete mir keine ernsthaften Chancen aus – weder hatte ich nennenswerte Orchestererfahrung, noch war mein Spiel ausgereift genug, um vor einem solchen Orchester bestehen zu können. Aber die Aussicht auf ein, zwei schöne Tage in München stimmte mich milde. Ein wenig Cello spielen, ein paar Helle im Augustiner in der Arnulfstraße – nicht der schlechteste Tagesinhalt im Leben eines Jungstudenten. Zu meiner Überraschung erhielt ich tatsächlich eine Einladung zum Probespiel. Frohgemut ging’s mit dem Zug nach München: my Cello, my Pony and me.
Courante
Das ehrfurchteinflößende Posen der Nationaltheater-Säulen blendete mich ein wenig, und unwillkürlich schlich ich geduckt vor Ehrfurcht zum Künstlereingang des hohen Hauses. Drinnen sah das schon ganz anders aus: abgeschrubbelter 60er-Jahre-Chic, kleinmütige Verlautbarungen der DOV am Schwarzen Brett, der Geruch von Bohnerwachs und billigem Glasreiniger in den endlosen Gängen – so ähnlich kannte ich das auch aus Hildesheim, Rendsburg und Kassel. „Des dauert fei scho noch an Augenblick“, meinte die Dame im Orchesterbüro – ich möge doch bitte solange in einem der Stimmzimmer warten und in einer knappen Stunde erneut nachfragen. Also auf zu dem XXL-Flur. Ich öffne die erste Tür – und blicke in drei feindselige Konkurrenten-Gesichter. Hier muss ich nicht rein, wirklich. Ein Zimmer weiter: zwei Cellistinnen von der allseits hochgeschätzten Kurzrock-Fraktion haben sich hier niedergelassen, und es wäre höchst unklug, sich in die Hände diese blutrünstigen Spezies zu begeben. Auch aus dem nächsten Zimmer tönt Cello-Gedudel, und so laufe ich bis ganz ans Ende des Flurs. Ist denn hier keine Herberge für mich? So bin ich denn einigermaßen überrascht, als ich eine leicht angelehnte Tür aufstoße – und dahinter eine recht kommode Wohnsituation vorfinde: Fernseher, Flügel, eine riesige, wenn auch ästhetisch höchst fragwürdige dunkelbraune Cord-Couch. Sogar Ölgemälde hängen an den Wänden. In Sekundenbruchteilen entscheide ich: alles meins! Bevor ich mein Cello auspacke, um mich warm zu spielen, verstaue ich meine mitgebrachten Fressalien in dem milde brummenden Kühlschrank. Zwei Milchschnitten, ein Käsesandwich, zwei Dosen Sprite sowie meine temperaturempfindliche Augensalbe finden Platz in dem nussbaum-furnierten Etwas, das bis zu diesem Zeitpunkt nur einige Piccolos und die damals noch selten anzutreffende „Lätta“ beherbergt hat. Ich stimme mein Instrument, spiele der sanft dahindämmernden Couch ein wenig Bach und Haydn vor. Ein wenig aggressives Zappen durch die eigenartig sortierten Fernseh-Programme (Sat.1, ARD, 3sat, RTL, ZDF), dann reihe ich mich in die Schlange derer, die gleich vorspielen müssen. Schaun’mer mal! Meine feuchten Handflächen hinterlassen deutliche Spuren auf dem Hals des Instruments.
Sarabande
Wie erwartet, ist für mich bei dem Probespiel nichts zu reißen. Mein Ton ist widerborstig, wenig charmant. Noch vor der Wiederholung bricht der Zeremonienmeister ab, sagt gelangweilt „Dankeschön“. Rausgeflogen in der ersten Runde. Naja. München halt.
Bourée I und II
Ich bin nicht wirklich enttäuscht – eher erleichtert. Nun rasch das Cello verpackt, und dann ab in den Biergarten. Als ich in mein Zimmer poltere, zucke ich zusammen: da sitzt jemand auf der Couch! Ich spüre einen Blick aus zusammengekniffenen Augen auf mir ruhen: „Guten Taaaaaaaaag!?!“. Auweia. Diesen distinguierten Weißhaarigen kenne ich doch – von diversen CD-Booklets. Wolfgang Sawallisch. Chefdirigent des Bayerischen Staatsorchesters. Schlagartig wird mir klar, warum dieser Raum so luxuriös ausgestattet ist – es handelt sich um das Zimmer des Generalmusikdirektiors. Na bravo. Noch kann ich so tun, als hätte ich mich einfach nur in der Tür geirrt. Dummerweise räkelt sich mein Cello-Koffer lasziv vor dem Flügel. Kein Entkommen möglich. Dafür weitere stechende Blicke. Was ich denn hier wolle? Ööööh. Hab hier gerade vorgespielt, und fands eigentlich ganz gemütlich. Ein Versehen, ja, doch. Packe nur rasch mein Instrument ein. Sawallisch begleitet meine hektischen Pack-Versuche mit Blicken, als hätte er mich beim Masturbieren ertappt. „Bin mal weg“, zwitschere ich verlegen. Als ich in der Tür stehe, fällt’s mir siedend heiß ein: im Kühlschrank ist ja noch mein Zeugs! Um die Ess-Sachen wäre es ja nicht tragisch, aber meine Augensalbe brauche ich dringend. Ich gehe in Zeitlupe rückwärts zu dem Kühlschrank. Sawallisch kann kaum glauben, was er da sieht. Mit einem Ruck reiße ich die Kühlschrank-Tür auf, klaube hektisch meinen Proviant und meine Augensalbe zusammen. So ähnlich müssen sich die Typen gefühlt haben, die 1989 in Nizza den Tresor des Credit Agricole ausgeräumt haben. Sawallisch betrachtet mich mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen. Jetzt sag doch was. Ich halte eine Milchschnitte in die Höhe, schmunzele den Maestro an und sage: „Ich lass Ihnen das mal da, ja? So als kleine Nutzungsgebühr.“ „Das ist sehr nett, vielen Dank“, meint Sawallisch bedrohlich lauernd. Ich flüchte.
Gigue
Es war das letzte Probespiel für mich. Schon bald ließ ich ab von dem Gedanken, Musiker zu werden. Es folgte ein lange Episode als Nachtwächter in einer Pfeffermühle. Dann Kulturjournalist. Keine nennenswerte Verbesserung. Doch auch heute noch spüre ich ab und zu den Phantomschmerz von Wolfgang Sawalllischs Blicken, als ich ihm eine Milchschnitte schenkte.
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