Nichts Böses ahnend ging ich heute Morgen über den Steindamm. Auf der einen Seite warteten wie sonst die Prostituierten, manche elend, manche noch nicht ganz so. Ich ging auf der anderen Seite, wo heute etwas die Sonne schien. Dort sind nicht die mittelschicken Businessmänner und die schmerbäuchigen Mittsechziger unter speckigen Hüten, Leute, über die ich ja nicht fallen will. Hinten in Richtung Hauptbahnhof leuchtete die Auslage eines dieser großen türkischen Gemüseläden immer heller als ich näher kam, melonengelb, gurkengrün, tomatenrot. Da standen viele Leute mit Einkaufstaschen und suchten sich ihr Obst aus, ich schlängelte mich durch - und dahinter passierte es. Ich war in Gedanken und achtete nicht sehr auf die Leute, aber das halbe und schludrige Hinsehen kann das allerekligste sein. Ein kleiner schmerbäuchiger Mann in einer speckigen Lederjacke scheeste mürrisch aus dem Ausgang des Gemüseladens und spie auf dem Gehweg in hohem Bogen aus. Ein wirklich hoher Bogen. Es war einer dieser Momente, wenn es einfach zu spät ist, den Blick gerade noch abzuwenden. Seine Spucke zerfaserte nicht in kleine Tröpfchen wie bei mir, wenn ich in hohem Bogen ausspeie, sondern landete so dick wie gespuckt auf dem Gehweg. Ich musste wirklich aufpassen, nicht in den Fleck hinein zu treten, eine schreckliche Sekunde lang, es war ein wirklich großer Fleck, und trotz meiner abgelenkten Aufmerksamkeit halluzinierte mein Gehirn mit Bildern vom Gesicht dieses Mannes. Das Walrossgesicht, der Schnauzbart, die Kugelaugen da. War mir, als hätte ich Elvis gesehen?, ich wünsche es mir so. Zehn, zwanzig Meter weiter ging's wieder und ich überlegte, ob ER es lieber doch nicht wäre, aber es waren schwierige Überlegungen, denn ich denke nie an Wolf Biermann und möchte auch keine Übung darin haben. Vielleicht hat die Hanelore welche, die Elstner, an die ich auch nie denke, die welche in muffiger Vergangenheit den Liedermacher coram publico so richtig heiß gemacht hat oder war es umgekehrt, ich weiß es nicht.
Später dachte ich an das große schwarzrote furchtbare Buch, das bei mir noch immer im Regal steht. Es heißt eigentlich 'Dos lid vunem ojsgehargetn jidischn volk' (Das Lied vom ausgemordeten jüdischen Volk) und ist von Jizchak Katzenelson, einem großen Dichter. Das heißt, das Buch wäre von Katzenelson, wenn es nicht von Biermann wäre. Der hat den jiddischen Text ins Deutsche übersetzt, er tat so als übersetzte er. Biermanns Titel fängt mit 'Großer Gesang' an und drinnen im Buch schwadroniert und fachsimpelt er, schreibt Zeug, spuckt, nutzt zärtlich kleine Worte ab und gibt sich zu erkennen. In jeder Zeile.
Jizchak Katzenelson wurde aus dem Warschauer Ghetto heraus geschmuggelt, kam in Frankreich wieder ins Lager, nach Vittel, wo er seine Verse in Lebensgefahr auf verschiedene Zettel kritzelte, sie in drei Flaschen packte und im Boden vergrub, bevor man ihn ins Lager Drancy transportierte, 'dort, wo man rechts rausgeht, bei dem sechsten Pfahl, der in der Mitte einen Vorsprung hat, unter der verzweigten Wurzel des alten Baumes' (Katzenelsons Leidensgefährtin, Miriam Novitsch). So konnten Katzenelsons Worte seinen Tod überleben. Die Zettel handeln vom Untergang des Warschauer Ghettos, vom Schreien, vom Zermahlenwerden, vom Tod seiner Kinder und dann bricht die Schrift ab. Am Ende hat man ihn in Auschwitz umgebracht.
'Sing. Nimm die hohle, ausgehöhlte Harfe. Qual durchpulst die dünnen Saiten... Wie soll ich singen, da die Welt verödet ist? Wie soll ich spielen? Mit gebrochner Fieberhand? Wo sind die Toten, Gott?...' (übersetzt von Hermann Adler)
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In der Zeitung stand, dass Biermann jetzt das irgendwievielte Jubiläum von irgendwas begehe und dafür plane er dies oder jenes Grmbrpf - schnell weiterblättern half auch nicht viel.
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