1989 oder 1990 war ich noch nicht so alt wie jetzt und Erich Schellow noch nicht tot. Eine Schauspielerlegende war er aber schon (u.a. wegen seiner Verkörperung des Sherlock Holmes in der 60er-Jahre Fernsehfassung) und ausserdem Ensemblemitglied am ebenfalls damals noch lebenden Schiller Theater in Berlin. Ich unterhielt damals eine Affaire mit einer Assistentin von Jérome Savary und war deshalb Dauergast im Schiller Theater, wo Savary den d'Artagnan probte - mit Schellow in der Rolle des Grossinquisitors.
An einem Abend, lange nach der Premiere, schaute ich mir die Inszenierung von der Seitenbühne aus an, denn dort war auch der Arbeitsplatz besagter Dame. Neben mir stand Erich Schellow, er wartete auf seinen Auftritt. In vollem Theaterornat stand er da und der kleine Tobler atmete gierig dieselbe Luft wie der Grosse Schellow. Auch spähte ich aus den Augenwinkeln zu ihm herüber. Dann begann Schellow sich "warm zu sprechen".
Abschweifung.
Öffentliches Warmsprechen ist so ziemlich das Peinlichste, was es gibt. Sinnlose Vokalreihen, gutturale Kehllaute und Sätze wie "Zwanzig Zwerge zeigen Handstand. Zehn im Wandschrank. Zehn am Sandstrand" oder "MemmingenMemmingenMemmingen - BlaBleBliBloBlu" sollte man entweder alleine in der Garderobe oder gar nicht von sich geben. Schellow ist natürlich eine Ausnahme. Legenden dürfen das, sie wollen damit demonstrieren, dass sie einem halben Jahrhundert Bühnenerfahrung zum Trotz ihre professionelle Einstellung zum Beruf nicht verloren haben. Das wusste ich aber damals noch nicht.
Ende der Abschweifung.
Schellow blubberte also "MaMaMaMaMaMaMaMa" und "EinssssZzzzweiiiiDrrrreiiiiVvvvviiierrr" und "AmEmImOmUm" und "hmmFatt! hmmFatt! hmmFatt!". Derartig Abseitiges hatte Theaterjungspund Tobler noch nicht erlebt und die schüchtern zurückhaltende Beobachtung wich offenmäuligem Glotzen. In diesem Moment erhielt Schellow vom Inspizienten sein Zeichen zum Auftritt, er sah auf, unsere Blicke kreuzten sich. Er bemerkte mein stieläugiges Starren, ich spürte Schamesblut in mein Gesicht schiessen. Er kam auf mich zu (das Blut schoss zurück in den Magen), umarmte mich zu meinem Entsetzen und flüsterte mir ins Ohr: "Sie haben vollkommen recht, junger Mann. Der Opa ist to-tal verrückt." Dann gab er mir einen Kuss auf die Wange. Dann trat er auf.
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*Okidoki, alter Alligator!
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