Eine Freundin meiner Mutter ist die Schwiegermutter Alfred Brendels. Es muß Ende der Siebziger Jahren gewesen sein, als sie uns einlud, einen Tag in ihrem toskanischen Ferienhaus zu verbringen, mit stolzem Hinweis auf die Anwesenheit des Meisters, der schon damals ziemlich Furore unter Klassikfans machte und seinen Urlaub in dem Haus verbrachte. Ich war so um die 12 Jahre alt, die Sonne schien, ich wollte um das Haus herum tollen und kreischen. Doch das ging nicht, das war zu laut, der Meister musste üben, da sollte ich Rücksicht nehmen. Also setzte ich mich auf die Terrasse und lauschte den Gesprächen der Erwachsenen, in denen die stolze Schwiegermama beiläufig die Tourneedaten ihres Privatvirtuosen einfließen ließ. Aus dem Inneren des Hauses hörte man über Stunden die selben Tonleitern als Lockerungsübungen.
Dann gab es Mittagessen, und tatsächlich: der bleichgesichtige Meister beehrte uns mit seiner Anwesenheit. Bei der Auswahl seiner Brille hat er sich schon damals vom Chefoptiker des ZK der KPDSU beraten lassen, dazu trug er trotz der Hitze eine graue, schlabberige Stickjacke. Während des Essens blieb der Maestro schweigsam und introvertiert, wie man das von so jemandem nicht anders erwartet haette. Er ließ andere über sich reden, vornehmlich seine Schwiegermutter. Nach dem Essen nahm er die Brille ab, drehte sich in die Sonne und ruhte fünf Minuten. Dann stand er auf, räkelte sich und sagte etwas wie: ³Herrlich, so ein Urlaub in Italien!' Darauf setzte er die Brille wieder auf, verabschiedete sich artig und verkroch sich zurück in seine Klavierhöhle. Die Gastgeberin erklärte uns, man werde ihn nun bis zum Abendessen nicht mehr sehen, nur hören. Aus der Ferne genossen wir nun 200 mal die ersten zwölf Takte einer Schubertsonate und beschlossen zu gehen.
An diesem Tag nahm ich mir fest vor, NIEMALS Klaviervirtuose zu werden.
Lesezeichen