In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts betrieben wir einen selbstverwalteten Jazzclub in der ostwestfälischen Kleinstadt, in der ich damals lebte. Es war eine jener in Eigenarbeit zusammengezimmerten Lokalitäten, in denen es immer irgendwie schmuddelig war, obwohl der abendliche Thekendienst stets nach dem Abzug des letzten Gstes saugte und wischte. Irgendwie gelang es uns, trotz knapper Kasse, immer wieder mehr oder weniger bekannte Künstler zu bekommen, gerne auch aus dem Vereinigten Königreich, das wir damals unwissenderweise stets als England bezeichneten.
Einer dieser Künstler war der bereits schon damals legendäre Keith Tippett. Legendär nicht unbedingt wegen seiner Musik, die doch manchmal schon schwere Kost darstellte, sondern wegen seiner Ehefrau. Er war nämlich seit einiger Zeit mit Julie Driscoll verheiratet, die wir alle in den Armen Brian Augers gewähnt hatten, seitdem die beiden mit einer Coverversion von David Ackles' "Road to Cairo" die Hitparaden erobert hatten. Tippett rückte erst durch die Heirat mit ihr so wirklich in unser Bewusstsein, obwohl wir seinen Namen von Platten mit Soft Machine oder King Crimson kannten.
Das Konzert (ich kann mich nicht mehr erinnern, mit welcher seiner zahlreichen Formationen er damals auftrat), sollte nicht im Jazzclub stattfinden, sondern in einer größeren Halle. Am Nachmittag vor dem Auftritt erhielten wir die Nachricht, dass Tippetts E-Piano angeblich nicht angekommen war. Ich besaß zu jener Zeit zwar nicht viel, aber zumindest ein Fender Rhodes, denn ich träumte damals noch immer von einer Musikerkarriere.
Obwohl ich zu den Menschen gehöre, die grundsätzlich nichts verleihen (weil man die Dinge entweder gar nicht oder nur nach mehrfacher Mahnung oder beschädigt zurückerhält, speziell Bücher, die anschließend immer Falten, Knicke oder Spuren vom Fingerkuppenschweiß fremder Menschen aufweisen), zögerte ich in diesem Fall keine Sekunde. Ich setzte darauf, anschließend selbst mit goldenen Fingern über die Tasten fliegen zu können, in der irrigen Annahme, Tippets Talent werde sich irgendwie über seine Fingerspitzen auf die Tasten und von dort auf mich übertragen.
Wenn ich mich richtig erinnere, fuhren dann zwei Roadies mit zu meiner Wohnung, und wir schafften das Rhodes gemeinsam die zwei Stockwerke herab und zum Veranstaltungsort. Auf der Bühne wartete Tippett bereits, ein recht unprätentiöser Mensch, der sich vielmals bei mir für die Leihgabe bedankte, die britische Höflichkeit eben. Zur Belohnugn durfte ich dann der Bandprobe beiwohnen, und ich sah zum ersten Mal handschriftliche professionelle Notationen eines Musikers. Die Zettel waren nicht, so wie ich als klassischer Klavierschüler das kannte, mit Noten gefüllt, sondern mit allen möglichen Kürzeln, die wohl für bestimmte Akkorde standen. Für mich waren es Hieroglyphen, und wie Tippett daraus solche Klänge zaubern konnte, war mir ein Rätsel, aber ich nahm mir vor, es ihm nachzutun.
Während des Konzerts stand ich im Publikum und musste die ganze Zeit daran denken, dass der Mann da oben auf der Bühne auf MEINEM Piano spielte und ohne mich wahrscheinlich gar nicht hätte auftreten können. Das versäumte ich auch nicht, jedem mitzuteilen, der mir zu nah kam.
Nach dem Auftritt durfte ich dann noch einmal kurz mit Tippett reden, der nach wie vor extrem britisch freundlich war. Bedauert habe ich nur, dass Julie ihn nicht begleitet hatte, denn die war natürlich mehr Leuten bekannt. Wenn ich später erzählte, Keith Tippett habe auf meinem Piano gespielt, dann musste ich fast immer hinzufügen "Der Mann von Julie Driscoll". Da wäre es einfacher gewesen, ich hätte sie auch getroffen.
Das Rhodes wurde in derselben Nacht noch zurückgebracht, und ich habe es dann einige Tage überhaupt nicht angerührt, damit Tippetts Magie sich fest mit den Tasten verbinden konnte, was sie dann, aus einem mir unerfindlichen Grund, doch nicht getan hat.
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