Sommer 1976 – ich bin 15 und mit der 8b auf Klassenfahrt in Berlin.
Die Funkausstellung ist Pflichtprogramm, danach Picknick im Tiergarten.
Nach dem Ausbreiten der karierten Wolldecken und dem Genuss der vom Jugendgästehaus gestellten Proviantpäckchen inklusive Apfelschorle in Halbliterflaschen kommt es vor, dass man schnell mal aufs Töpfchen muss und nicht warten kann.
Ok – die öffentliche Toilette erreiche ich in meinem Zustand nicht in trockener Hose.
Macht nix - ein Park ist ein Park. Also hinein ins Gebüsch! Ein übler Dornenstrauch macht es nicht leicht, außer Sicht der anderen zu einem geeigneten Plätzchen zu gelangen. Endlich, geschafft, hier sieht mich keiner!
Fix den Gürtel gelöst, in die Hocke und....hm, was liegt da?
Was ist das?
Ein ganzer Haufen niegelnagelneuer Schallplatten (damals hießen die noch so und waren aus sensiblem Vinyl) schimmert dort zwischen Pilz und letztjährigem Laub. Ich erkenne deutlich das Cover von „Machine Head“.
Was soll das? Wer legt edle Meisterwerke von Deep Purple in der Pampa ab?

Bevor ich mich weiterwundern kann, höre ich ein hohes Stimmchen hinter mir. Hmm, kommt mir bekannt vor, woher kenne ich dieses Quäken und Schnarren?
Ich schieße hoch, drehe mich erschrocken um – und direkt vor mir, da wo noch die letzten Sonnenstrahlen hinkommen und sein schwarzes Haar glänzen lassen wir Speckschwarte – da steht er! „Euer Ilja“, wie er bei `Disco` immer sagt.
Unser Ilja also.

Im feinen Einreiher und mit geputzten Schuhen steht er vorm Hollerbusch. Sein Gesicht ist schmal, etwas verkniffen, die Haut leicht gebräunt. Ein südlicher Typ, Solarien gab es ja damals noch nicht. Ilja lächelt mich mit kleinen, schwarzen Augen feundlich an. Mit der linken Hand führt er einen winzigen Schwarzhund an langer Leine, den es aufgeregt schnüffelnd geradewegs zu mir hinzieht. Warum nur? Ach ja, meine Hose steht ja auf. Zum Glück befinde ich mich im Schatten.

„Was das denn da?“ fragt Ilja freundlich und ich weise mit schnell zugehaltener Hose unschuldig hinüber zum Vinylhaufen. `Nur paar Schallplatten, weiß auch nicht, wer die hier vergessen hat..`
Was für einen Blödsinn! Vergessen! Niemand vergisst feinsten RocknRoll im Dornengebüsch.
„Zeig doch mal !“ schnarrt Ilja. Na schön, ich drehe mich zur Seite, klemme in Rekordzeit Knopf in Knopfloch, bücke mich und reiche ihm einhändig eine Platte rüber.
„Hey, hihihi, das ist ja ulkig! Wer läßt denn sowas hier liegen?“ quietscht Ilja, dessen Hündchen inzwischen zwischen meinen Beinen angekommen ist und Anstalten macht, sich dort zu verewigen.
Ich bin kein Fan von „Disco“, Iljas Sketche finde ich albern. Das gleiche gilt für die Musiker, die in seiner Sendung auftreten. Aber er scheint ja ein netter Typ zu sein, ohne Berührungsängste sozusagen. Für seine Streichholzfigur kann er nix und die Stimme – naja.
Den Hamlet kann er damit jedenfalls vergessen.
Ich würde ja gern noch ein bisschen mit ihm schnacken.

Aber meine Blase – und dieser hechelnde Hund!!
Ich klemme mir „Machine Head“ unter den Arm und mache, dass ich wegkomme.
Ilja schmettere ich noch ein leicht panisches „Tschühüß“ hinterher.