Da ich es nicht so gerne habe, wenn mir die Leute zu nahe rücken, fahre ich selten mit der U-Bahn, sondern nehme meist das Fahrrad. Es ist ein altmodisches Rad, auf dem man aufrecht sitzen und erhobenen Hauptes umherschauen kann und nicht der ganzen Welt seinen Arsch zeigen muß, wie das bei neueren Gefährten oft unumgänglich ist.
Was ich aber noch weniger leiden kann sind Autos, die mir zu nahe rücken. Es passierte, als ich in München Richtung Sendlinger Tor radelte und mustergültig rechtsaußen am Straßenrand an einer Ampel zum Stehen kam. Plötzlich hielt ein Wagen so dicht neben mir, daß es mich beinahe vom Rad schmiß. Es war ein dicker BMW, der natürliche Feind aller Radler, obendrein in einer türkisenen Farbe lackiert, wie man sie seit der Möbelmode der 80er Jahre nicht mehr oft ertragen mußte. Den Fahrer konnte ich nicht sehen, weil die Scheiben getönt waren und er sofort wieder Gas gab, als die Ampel auf Grün sprang. Aber ich wußte, daß nur wenige Meter weiter eine zweite Ampel lauerte. Also radelte ich, so schnell man das aufrecht sitzend und erhobenen Hauptes eben kann, denn ich witterte meine Chance, den Übeltäter zu stellen und ihm so richtig die Meinung sagen, daß er sich's merkt für die Zukunft. Schon von weitem konnte ich sehen, daß das Fenster der Fahrerseite heruntergelassen war. Bravo! Da würde ich gut reinschimpfen können!
Ich fuhr links an ihn heran und lugte durch das geöffnete Autofenster ins Wageninnere in Erwartung eines ganz gemeinen Menschens. Als mir klar wurde, daß der Fahrer mich nicht einmal wahrnahm, weil er mit abgewandtem Kopf in sein Handy plapperte, steigerte sich meine Wut ins Unermeßliche. Ich schrie ins Auto: "He, Sie!" Der Mensch hielt inne, drehte seinen Kopf, und jetzt erkannte ich ihn. Es war Lothar Matthäus! Jener Lothar Matthäus, der immer, wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert sofort anruft, weswegen der häufigste Satz in seinem Mein Tagebuch auch "ich rufe sofort an", oder "sofort rief ich an" lautet. Jener Lothar Matthäus, der einem Radiomoderator seine ganz persönlichen "Gedanken zu Brot" ins Mikrofon geschwatzt hatte: "Also meine Gedangen zu Brod, na ja des schmeggt guud, des gibt a Graft, gibt's aach mid Vollkorn ....". Jener Lothar Matthäus, der einmal sagte "Und wenn dein Reden auch stockfalsch und blödsinnig ist: Hauptsache du tust wieder den Mund auf!": Jener Lothar Matthäus, der zu dieser Zeit Kapitän beim FC-Bayern war. Jener Lothar Matthäus also hatte sein Handy-Gespräch unterbrochen sah mich jetzt erwartungsvoll an. Mich. Einen Fan des FC-Bayern. Man bedenke, während ich diese Zeilen schreibe, trage ich rote Filzpantoffeln mit dem Emblem dieses Vereins!
Ich rang nach Worten, wollte ich doch eigentlich mit aller Strenge einen verkehrserzieherischen Auftrag erfüllen. "Des nächste Mal paß' fei besser auf! Wegen dir wär' ich da vorn fast vom Radl g'flogen!" war alles, was ich schließlich hervorbrachte. Lothar Matthäus sah mich ein wenig verwundert an und erwiderte freundlich "oh, des tuud mir laid". Dann redete er wieder in sein Handy!
Noch lange mußte ich über meine komische Reaktion nachdenken. Nicht nur, daß ich in Dialekt verfiel, was ich selten tue, ich habe ihn auch noch geduzt! Warum nur? Ich behaupte mal, es gibt drei Gründe, Menschen zu duzen: 1. es sind Menschen, die man heruntersetzen oder erniedrigen will, 2. es sind Menschen, die man gut kennt, oder sympathisch findet und sich deswegen mit ihnen auf einer Stufe fühlt, 3. es sind Kinder. Punkt 1 scheidet aus, weil ich, wie gesagt, Bayern-Fan bin. Punkt 2 ebenfalls, weil ich Lothar Matthäus nicht persönlich kenne und ihn ehrlich gesagt nicht so sympathisch finde. Nein, nicht mal als Bayern-Fan. Bleibt also nur Punkt 3. Kinder. Und vielleicht ist das gar nicht so falsch. Ist Lothar Matthäus nicht immer "du Loddar" geblieben, trotz Designeranzug, Erfolg und dickem türkisenem BMW? Ist er nicht eines dieser ewigen Kinder, immer munter vor sich hinplappernd, egal, was ihm gerade in den Sinn kommt?
Vielleicht aber hat ja jemand eine ähnliche "du"-Erfahrung mit einem Prominenten gemacht und dazu eine eigene Theorie entwickelt.
Ich war dann sogar beim Abschiedsspiel von Lothar Matthäus im Olympiastadion. Als er unter Konfettiregen eine Ehrenrunde lief, wirkte er nur unwesentlich größer als die Papierschnipsel, die vom Himmel regneten.
Lesezeichen