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Thema: Jessica

  1. #1
    Member Avatar von Edgar_Biller
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    Jessica

    Kaum hundert Meter Luftlinie von meinem Elternhaus entfernt lag ihr Haus am Fuß eines kleinen Abhangs, den die Dorfjugend im Winter zum Schlitten fahren nutzte. Ganz außen, dort wo die Abfahrt am längsten war, gab es die „Todes-Bahn“. Wenn man nicht im richtigen Sekundenbruchteil nach rechts steuerte, fuhr man linkerhand nach unten auf die Schienen. Vom Zug erwischt worden, der hier stündlich zweimal durch fuhr, ist meines Wissens niemals jemand. Einfache Wahrscheinlichkeitsrechnung.

    Von ihrem Vater hat sie die Haut- und Haarfarbe. Seine Abwesenheit und ihr äußerliches Anderssein waren selbst auf dem Dorf Mitte der Siebziger Jahre im Grunde kein Thema mehr, über das getratscht wurde. Rückblickend kommt mich diese Erinnerung ganz positiv an. Das Gesicht dagegen ist eins zu eins von der allein erziehenden Mama, bei der sie aufgewachsen ist, räumlich und sozial allerdings eingebettet in eine intakte Großfamilie. Auf dem kleinen Grundstück hatten nach und nach drei Generationen samt Anhang gebaut und sich eingerichtet, was dem Ganzen von weitem den Eindruck einer Wagenburg gab. Ihr Urgroßvater ist erst vor zwei Jahren mit 100 verstorben. Kaum mehr als zehn Jahre vorher kletterte er als Küster der evangelischen Kirche in der Vorweihnachtszeit noch jeden Dezember ohne Sicherung auf einem Balken in 8 Metern Höhe, um den Adventskranz zu befestigen.

    Mit ihrem Onkel und den anderen Jungs aus der Nachbarschaft, die alle zwei bis drei Jahre älter waren als ich, spielte ich fast täglich, Fußball oder kleine Plastiksoldaten. Einmal zündeten wir im nahe gelegenen Wäldchen einen Baumstamm an. Meine Mutter merkte an meiner gedrückten Stimmung, dass etwas nicht in Ordnung war, erpresste ein Geständnis und alarmierte dann die anderen Eltern. Für einige Zeit war ich ein wenig geächtet.
    Aufgrund seines Altersvorsprungs zog mich der Onkel über den Tisch: Von meiner Patentante hatte ich zum Geburtstag ein teures Matchbox-Auto bekommen und mich von ihm zu einem Tausch gegen die kleine Asterix-Plastikfigur aus einer Kaugummitüte überreden lassen, die ich über alle Maßen besitzen wollte. Später tat mir der Tausch leid, aber meine Mutter sagte, daraus könne ich für später lernen.

    Einmal war ich gerade beim örtlichen Zeitschriftenhändler, als sie mit ihrer Mutter hereinkam. Diese erkundigte sich nach Büchern von Edgar Wallace. Der Händler verneinte, solche Bücher zu führen. Aber dort hinten sehe sie sie doch, erklärte die Mutter. Ach, den Wallacke meinen Sie, antwortete der Händler. (Im Fernsehen sah ich einen Buchhändler, der nach dem größten Kundenmissverständnis gefragt wurde und die Geschichte erzählte, als jemand nach „Nazis in Dortmund“ von Rudolf Hess fragte, was sich nach längerem Nachbohren als, Sie ahnen es bereits, „Narziss und Goldmund“ entpuppte.) Da hab ich sie das letzte Mal bewusst gesehen, auf dem Arm ihrer Mutter. Sie hatte gerade in die Windel gemacht. Ein knappes Vierteljahrhundert bevor sie kein no angel mehr sein wollte und sich nach einer sechsmonatigen Babypause jetzt auf die Solokarriere konzentrieren will, wie ich der heutigen Tagespresse entnehme.

  2. #2
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    wunderbare Geschichte, mit Spitzenhessewitz, kann leider gerade nicht bläuen

  3. #3
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    Mir tun die Hessen leid. Sehr geehrte Teekanone, bitte lesen Sie nocheinmal. Ich gehe jetzt lieber Karl May lesen. Bedeutend besser.

  4. #4
    Sir Avatar von yellowshark
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    Wer hat Dich denn hier 'reingelassen? Geh weg.
    ys

  5. #5
    Moderator Avatar von rron
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    Die Hessen müssen einem natürlich überhaupt nicht leid tun. Ich wurde geschickt, sie zu beglücken. Hier ist alles im Lot.

    Der Chemiker schreibt jetzt tausendmal an die Tafel "ich soll erst posten, wenn ich dazu aufgefordert werde" und geht dann nach unten, um einen Strang zu eröffnen, der den Titel trägt "Liebling, ich habe die Inder geschlumpft!" und Herr Biller schreibt bitte schneller, mehr und öfter.

  6. #6
    Camembert Avatar von Edding Kaiser
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    Der Chemieunfall soll sich bitte mit einem grossen Hammer unentwegt sehr fest auf den Kopf schlagen und wenn er damit fertig ist, hey, dann soll er von vorne beginnen und dann nochmal und dann zur Sicherheit nochmal. Das wird bestimmt gut.

    Die Geschichte von E. Biller ist so, wie Geschichten sein sollen, nur besser.
    Für Inge.

  7. #7

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    Ja toll!, ich weiss zwar nicht, um wen es sich handelt. Aber dieses:
    "Aufgrund seines Altersvorsprungs zog mich der Onkel über den Tisch: Von meiner Patentante hatte ich zum Geburtstag ein teures Matchbox-Auto bekommen und mich von ihm zu einem Tausch gegen die kleine Asterix-Plastikfigur aus einer Kaugummitüte überreden lassen, die ich über alle Maßen besitzen wollte. Später tat mir der Tausch leid, aber meine Mutter sagte, daraus könne ich für später lernen", das macht mich wahnsinnig. Mir hat niemand gesagt, ich könnte daraus lernen, ich hab´s auch nicht getan, tut auch nichts zur Sache. Zwei Teile habe ich nämlich so verloren. Worum´s ging, ist egal - und was ich bekam, weiß ich nicht mehr.
    Doch was mir fehlt.
    Geändert von oliverk (24.07.2003 um 00:06 Uhr)

  8. #8
    Avatar von Benzini
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    Egal um welche Frau es hier gehen mag, aber dass ihr Haus an einem Fuss liegt finde ich schon einigermassen bemerkenswert. Wenn nicht sogar anbetungswürdig. Knickknack.

  9. #9
    MaybachMember Avatar von Der Admiral
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    Good morning!
    Embedded Senator

  10. #10
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    Jetzt weiß ich welcher Stil das ist: "Tratschke fragt: Wer war's?" aus der ZEIT, gib's das eigentlich noch? Sehr schön, eigentlich jeder Satz, z.B., daß das "äußerliche Anderssein selbst auf dem Dorf Mitte der síebziger Jahre kein Thema mehr war, über das getratscht wurde. Rückblickend kommt mich diese Erinnerung ganz positiv an". Hier gut sichtbar: Unterschied Klischee/selbst erlebt und drüber nachgedacht.

  11. #11
    Avatar von Aporie
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    Elegante Abschweifungen, umso überraschender der präzise Schluss, der die Paparazzte erst vorstellt.

  12. #12
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    hübsche geschichte herr biller

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