Kostümierte haben freien Eintritt, wofür man die Veranstalter ruhig ein Viertelstündchen würgen sollte. Verpickelte Sailermoonklone halten Halle drei besetzt, aus neonblauen Katzenkostümen quellen Tonnen von Babyspeck, und direkt vor mir pubertiert eine fette vierzehnjährige Leiche im schwarzen Brautkleid. Sie ist dahin, die Ära der sanften buckligen Handarbeitslehrerinnen, die auf den leisen Sohlen ihrer orthopädischen Schuhe durch die Frankfurter Messehallen huschten und nur gelegentlich innehielten, um scheu den Einband beispielsweise einer in Gazellenleder gebundenen Robert-Walser-Ausgabe zu streicheln. Ziemlich aggro, aber auch nicht ganz unemo kämpfe ich mich zu dem karnickelbuchtenkleinen Stand eines in Kulturpessimismus machenden und mir schon deshalb ungeheuer sympathischen Verlages vor. Hier docke ich an und blättere ein bißchen in den Neuerscheinungen. "Soziologie - Studieren für die Praxis", offensichtlich ein humoristisches Werk.
An dem Stand schräg gegenüber sitzt unter einem Transparent mit der Aufschrift „Signierstunde Alice Schwarzer“ eine einsame Alice Schwarzer, deren mit dunkelrotem Lippenstift versehener und zu einem gesellschaftskritischen Dauerlächeln verzogener Mund fatal an einen Briefschlitz erinnert. Alice Schwarzer kommt mir auf den ersten und dann auch auf den zweiten Blick ziemlich mondän vor, auch haben ihre raumgreifende Pose und die Art, wie sie die Beine übereinandergeschlagen hat, etwas beeindruckend Provokantes. Ich lasse mein Buch sinken und denke, gar nicht mal so übel für ihr Alter, die muss ja auch schon hundertzwanzig sein, ob die sich die Falten unterspritzen lässt?
Alice Schwarzer langweilt sich, jedenfalls sieht sie demonstrativ auf ihre Armbanduhr und auf die gleichgültig sich vorüberwälzende Menge, die vermutlich zu der Lesung irgendeines Dreck in der Güteklasse von „Warum Männer neben das Klo pieseln und Frauen immer so viel Schuhe kaufen“ auf den Buchmarkt aulenden Schwachmaten unterwegs ist. Ihr Dauerlächeln friert einen Moment lang zu einer tapferen Grimasse ein.
Ich gucke einen Moment zu lange, Alice Schwarzer guckt, wer da guckt, was mir peinlich ist, also gucke ich schnell wieder weg. Einen Moment lang fühle ich mich verantwortlich für den seelischen Komfort dieser zu Unrecht vereinsamten Frau. Hingehen, Gespräch von Frau zu Frau anzetteln? Guntach, ich kenn Sie aus Fernsehn und ich wollt Ihnen schon immer mal sagen, dass...? Nein. Ich schlage mich seitwärts in die Menge und reiße einem Kerlchen im Prinzessin-Lillifee-Outfit dabei versehentlich den Flügel ab.
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