Im Jahre 1988, ich war damals 18 Jahre alt, verbrachte ich ein paar Tage in Berlin. Die Hinfahrt von Hamburg hatte ich mit einem Billigbus bewältigt. Auf dem Rückweg wurde ich von meinen Großeltern abgeholt. Mein Opa hatte sich gerade ein neues Auto gekauft und war ganz wild aufs Fahren. Da meine Großeltern beide sehr für günstige Einkäufe zu haben waren, wurde auf der Transitstrecke traditionell an jedem Intershop gehalten und das immergleiche Angebot bestaunt. Die kärgliche Auswahl bestärkte meine Großeltern immer wieder in ihrer Freude darüber, auf der richtigen Seite der Mauer zu wohnen, und frohgemut wurde erneut das Auto bestiegen.
Beim zweiten Zwischenstopp bog kurz vor unserem rentnergrünen Golf ein schnittiges Mercedescoupe auf den Parkplatz ein. Ihm entstieg ein irgendwie altersloser graublonder Mann, der mit einem kleinen Dicken im Schlepptau zielstrebig auf den Intershop zuging. Meine Oma stieß mir aufgeregt in die Hüften und bühnenflüsterte dramatisch: „Das ist Jonny Hill, der Schlagersänger.“ Schlager war damals nicht so meine Musik, und als ich sie aus meinem Sisters-of-Mercy-T-Shirt heraus verständnislos anglotzte, offenbarte sie mir die ganze Wahrheit: Dieser Mann war der Interpret des Titels „Rufe Teddybär eins vier“. Dieses Lied kannte ich gut, hatte ich ob des todtraurigen Textes doch als kleines Mädchen immer ein Krokodilstränchen verdrückt. Der Name des Sängers sagte mir jedoch nichts, und die Begegnung ließ mich entsprechend kalt. Gar nicht cool hingegen reagierte die Broilerverkäuferin, die beim Herannahen des Sängers ihrem Imbisswagen entfloh und sich unter ekstatischen „Jonny Hill! Jonny Hill!“-Rufen ein Autogramm verpassen ließ. Auch die Hormonschübe der Intershop-Kassiererinnen waren mit Händen zu greifen. Und sogar meine Oma hatte ein bisschen weiche Knie und begutachtete, im Gegensatz zu ihren sonstigen Gewohnheiten, weniger das Kernseifenangebot als den Graumelierten. Ein Autogramm allerdings holte sie sich nicht, so hanseatisch war sie dann doch. Tatsächlich trafen wir Herrn Hill in den nächsten beiden Intershops wieder. Seine Anwesenheit verursachte jedes Mal einen ordentlichen Aufruhr.
Am Ende der Transitstrecke wurden wir rausgewinkt. Wir hatten wirklich selten lange gebraucht, was in den freundlichen DDR-Zöllnern den Verdacht aufkommen ließ, dass es zu einem verbotenen Stell-dich-ein mit Ostverwandtschaft gekommen war. Ein junger Uniformträger nahm meinen Opa ins Verhör. Der schob die Schuld auf mich: „Das Kind musste so oft auf Toilette.“ Das hört man gern mit 18. Mein Opa strafte sich aber kurz darauf selber Lügen. Er reagiert auf Stress nämlich mit einem Reizdarm und musste tatsächlich erst mal die Zolltoilette aufsuchen. Das hatte den Beamten wohl von unserer Harmlosigkeit überzeugt und wir durften weiterfahren. Endlich in Hamburg angekommen, fasste meine Oma die ereignisreiche Fahrt für meine Mutter folgendermaßen zusammen: „Wir haben Jonny Hill getroffen. Daniela war ganz aufgeregt.“
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