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Thema: Kanther, Manfred (zahlt bar)

  1. #1
    Member Avatar von Effe Oberg
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    Kanther, Manfred (zahlt bar)

    An einem warmen, spätsommerlichen Donnerstag sitzen mein Kollege Matthias und ich im Terrassencafé der Andechser Brauerei in Wiesbaden. Wir müssten eigentlich an irgendeinem Symposium der viertägigen 78. Neurologenfachtagung DGN teilnehmen, aber nach zwei Tagen inmitten humorloser und verbiesterter, universitär-neurologischer Heißdüsen und den protzigen Messeständen der Pharmaindustrie, an denen schlecht gekleidete Hostessen ranziges Sushi verteilen, möchten wir die Gunst der Stunde nutzen und den lauen Altweibersommernachmittag an der frischen Luft verbringen.

    Deshalb lassen wir uns mittlerweile in der zweiten Lokalität nieder und planen erneut, zunächst ein schönes, goldenes Nachmittagsbier - ein würzig- helles Andechser Spezial zu trinken und die danach aufzukeimen drohende Müdigkeit mit einem Kaffee zu vertreiben. Das Lokal befindet sich direkt gegenüber des Landtags, welcher in einem ehemaligen Stadtpalast mit weißer Fassade aus dem 19. Jahrhundert residiert, damals im Stil von Stadtwohnungen erbaut, wohl um den damaligen Bürgern die Schwellenangst vor dem Adel zu nehmen. Wie auf einem halbbevölkerten Ameisenhügel trotten in regelmäßigen Abständen einige Landtagsbeamte mit Akten unter dem Arm an uns vorbei.

    Nahezu alle Plätze draußen sind belegt mit träge und zufrieden wirkenden Menschen, von denen die meisten Kaffee ohne Bier trinken. Nur am runden Nebentisch sitzt ein Herr um Ende 50, allein. Er trägt Bundfaltenjeans mit Hochwasser, unmodische Slipper und eine braune, nicht speckige Lederweste über dem schwarzen Pullover, am Gürtelsaum prangt ein Handy im schwarzen Etui. Der Mann bestellt sich ein alkoholfreies Bier. Matthias und ich sprechen nicht viel, die Sonne blendet ein wenig, wohltuend ist die Ruhe dieses - ja - gediegenen Platzes, und die Luft riecht, wie sie während des Altweibersommers riechen muss. Der Altweibersommer heißt übrigens Altweibersommer, weil die Spinnenweben im herbstlichen Morgentau so aussehen, wie die grauen Haare alter Weiber. Das lernte ich jüngst vom Autoradio, WDR 5, dem "Wortsender" des Westdeutschen Rundfunks.
    Weiß-grau wie die Haare einer alten Frau und noch ganz weit entfernt, am Ende des Platzes, leuchten auch die des wohlgescheitelten Herrn im schwarzen Anzug, der mit zwei Frauen - einer älteren, ebenso fein gewandeten, und einer ca. 39 jährigen Schwangeren mit einem kleinen, etwa vierjährigen Jungen auf einem Holzfahrrad ohne Pedalen, der sich mit den Beinen antreibt und die kleine Gruppe immer wieder umkreist. Als die Gruppe am Nebentisch steht und der Scheitelträger den Herrn mit dem alkoholfreien Flaschenbier fragt, ob denn noch frei sei, sehen wir, dass es sich um Manfred Kanther handelt.

    Kanther nimmt mit seiner Familie Platz. Die ältere Frau ist offensichtlich seine ihm angetraute, die jüngere muss seine Tochter sein, denn sie sagt „Daddy“. Der Junge mit dem Holzfahrrad trägt einen Pullunder und heißt Phillip.

    Einige Landtagsbeamte passieren wieder das Café, ein Herr grüßt formvollendet die Gesellschaft und deutet einen Diener der gnädigen Frau an. Wir gewinnen den Eindruck, dass die Familie Kanther ihren tadelosen Ruf auch nach Spendenskandalen und brutalstmöglicher Investigationsarbeit bewahren konnte, zumindest hier in Wiesbaden. Am Nebentisch lassen sich einige Gesprächsstränge verfolgen. Kanther mokiert sich über lange Wartezeiten in einer HNO ärztlichen Praxis. Wir erfahren, dass in der nächsten Woche in Phillips Kindergarten Oma-Opa-Tag ist. Manfred Kanther, dessen zurückgelehnte Haltung glänzende Manschettenknöpfe an weißen Hemdsärmeln freilegt und dessen weit unter den Tisch gestreckte Beine etwas zu kurze, schwarze Socken und weisse HAu offenbaren, bestellt für alle Beteiligten Eisschokolade.

    Phillip quengelt, er muss auf’s Klo. Seine Mutter beschließt rasch, Opa Kanther für die Rolle des Kindesbegleiters vorzusehen. Kanther trottet in anscheinend gewohnter Manier mit seinem Enkelsohn in Richtung Toilette, er wirkt sympathisch. Beide kommen nach fünf Minuten zurück. Phillip ist wieder langweilig. Opa Kanther fordert ihn auf, er solle doch mit seinem Fahrrädchen ein paar Runden durch die Fußgängerzone fahren. Wahrscheinlich will er jetzt mal seine Ruhe haben. Dieser Vorschlag wird jedoch missbilligt, vor allem von der schwangeren Tochter: „Ich glaub, ich lüge, Daddy! Denn: Phillip - hatten wir nicht genau über dieses Thema gestern noch eine furchtbare Diskussion? Wir möchten nicht, dass er genau das macht!“ Und zu dem bislang schweigenden Herrn mit dem alkoholfreien Bier gewandt: „Wie sagt der Junge dann immer, wenn er sich so aufregt? ‚Mama, ich hau Dich an die Wand und das ganze Haus kaputt!’, stellen Sie sich das vor, so cholerisch wird der Junge!“

    „Entschuldigen Sie, aber Sie sind doch der Manfred Kanther, oder?“ fragt der Herr mit dem Bier. „Ja!“ kommt es einhellig von allen Seiten des Tisches.
    „Wo denn wohl die Bestellung bleibt?“ fragt sich Opa Kanther. „Phillip, geh doch mal und frag mal nach!“ Der kleine Junge will losstiefeln, doch da werden schon die Eischokoladen herausgebracht.
    „Ich wollte heute abend noch zum Lidl!“ sagt Frau Kanther. „Da wo ich wohne, ist gerade noch Rheinland Pfalz! Der Ort iegt genau an der Grenze.“ sagt der Biertrinker zu ihr. „Es sind keine 20 Kilometer von hier.“
    „Aber da ist doch die CDU am Ruder, oder?!“ weiss Frau Kanther, was nickend bestätigt wird.
    Manfred Kanther denkt laut und fragt sich, ob er denn genug Geld zum bezahlen dabei habe. „Ach, Daddy, notfalls nimmst Du die EC- Karte.“ Nach zehn Minuten bricht die Familie zum Aufbruch an.
    „Freut mich, Sie kennengelernt zu haben!“ sagt der Mann und nimmt seinen letzten Schluck Bitburger alkoholfrei, eine kleine Prostbewegung andeutend.
    „Und Sie sind mein Gast!“ entgegnet Manfred Kanther.
    „Na, bevor ich mich schlagen lasse, vielen Dank!“ freut sich der Eingeladene.

    Kanther zahlt – bar – und die Familie steht auf und schlendert in die Richtung, aus der sie gekommen war. Der fremde Mann sieht, dass die Quittung noch auf dem Tisch liegt. Er nimmt sie und hält sie gegen die Sonne, fast so, als wolle er die Echtheit oder ein Wasserzeichen prüfen. Schließlich steckt er sie, einmal in der Mitte gefaltet, sorgfältig in sein Portemonnaie.

  2. #2
    Member Avatar von Effe Oberg
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    Freitags-Selbstwuchtung: verboten?
    Strč prst skrz krk !

  3. #3
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    Ja.
    Das Ei läßt sich aus dem Teig nicht mehr entfalten.

  4. #4
    Member Avatar von Effe Oberg
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    Ich dachte mir: "Man kann ja mal."
    Strč prst skrz krk !

  5. #5
    Member Avatar von Malevitsch
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    Aber schöne Geschichte.
    Raise your heart for the aerosol art.

  6. #6
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    Immerhin kann man sich freuen, nicht am Nachbartisch gesessen und zuhören haben zu muessen.

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