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Thema: Fussbroich, Annemie (gemeinsam gedemütigt) [urpsr. Tante Alighieri]

  1. #1

    Fussbroich, Annemie (gemeinsam gedemütigt) [urpsr. Tante Alighieri]

    von TANTE ALIGHIERI

    Als sie in den Wagen wackelte, trat in die Gesichter der Fahrgäste etwas zwischen Schrecken und Entsetzen. Sie war kein Star, sicher nicht, sie war ein zufällig zu Bekanntheit gekommenes Serienrequisit. Die TV-Frau von nebenan, eine von uns, allerdings im schlechteren Sinne. Sie würde keine Zurückhaltung zeigen, nicht diese angenehm arrogante Distanz wirklicher Größe, nein, sie wollte erkannt und beachtet sein. Und dafür würde sie allerlei tun.
    Annemie Fussbroich zählte zum menschlichen Mobiliar einer Reality-Soap, die einem damals im Dritten zeit- und schlafnah das Leben einer Kölner Durchschnittsfamilie aufdrängte. Annemie war die Unruh in einem skurrilen Kleinkosmos, bestehend aus Vater Fred, ihr selbst und dem hoffnungslos missratenen Frank, der immer alles gesteckt bekam. Von der Kinokarte bis zum Fünfer Cabrio. Einfach mal so, wahrscheinlich mit der Kohle vom Fernsehen. Er führte ein Doppelleben neben seiner realen Serienexistenz und schlug später eine mittlere Laufbahn in der Kölner Kleinkriminellenszene ein.
    Der redliche Fred erstrebte ein beschauliches Leben zwischen seinen vier Mietswänden, sah gerne fern, meist gemeinsam mit einem Bierchen, offenbar unbeeindruckt davon, dass ihn das Fernsehen dabei unablässig filmte. Manchmal stellte er auch Weihnachtsbäume oder neue Sitzgarnituren auf.
    Annemie dagegen suchte in immer wechselnden Hobbies ihre wahre Bestimmung. Sie bildete sich, nach ihren intellektuellen Möglichkeiten, in innenarchitektonischen Fragen und gestaltete die Wohnung monatlich trendgerecht um. Dann wieder verfiel sie dubiosen Diäten, fragwürdigen Fitnesstrends oder astrologischen Sekten und wollte plötzlich Wahrsagerin werden. Ihr rotes Haar am Horizont verhieß in weiten Teilen der Welt zu jener Zeit Unheil und Leid.
    Und nun stand Sie in der Bahn. Unausweichlich, unübersehbar. Sicher: die viel zu bunt gepunktete Bluse, viel zu lässig über die Stretchjeans gehängt, die viel zu fransenverzierte Wildlederjacke mit viel zu winnetoumäßigem Perlenbesatz. Aber es war nicht bloß die optische Erscheinung. Es war ihr ganzes hyperaktives Gehabe und ihre – zugegeben – unglaubliche Präsenz.
    Kaum hatte sich die Dokumantarfilmdiva berappelt und auf einen allseitig sichtbaren Platz verladen, schickte sie ein offenbar vielfach geübtes Lächeln in der Bahn umher, das alle unmissverständlich einlud: „Seht mich ruhig an, ich hab nichts dagegen. Bin ja beim Fernsehn.“ Die ganze Geste war derart aufdringlich und übertrieben vorgetragen, dass ich mich wie alle anderen peinlich berührt abwandte.
    Anstandsbegabte Wesen wie ich hatten schon den Einstieg der Fussbroich nur unauffällig aus den Augenwinkeln beobachtet, gedankliches Versunkensein vortäuschend. Aber selbst die, die anfangs noch ungehemmt und offenen Munds geglotzt hatten, brachen jetzt instinktiv jeden visuellen Kontakt ab. Frauen vertieften sich schlagartig in ihre Einkaufstüten, Männer starrten angestrengt ins Leere und Frau Fussbroichs Gebahren fand nirgendwo Gefallen.
    Die allgemeine Ablehnung ignorierend, rutschte die penetrante Person einfach weiter aktionistisch auf ihrem Platz herum. Sie machte auf Grande Dame der deutschen Doku-Soap, ordnete mehrfach ihre Taschen, zupfte ständig an Kleidung, Haut und Haaren herum, jede ihrer sinnlosen Taten dabei wortlos und gestenreich kommentierend. Es war eine Tortur für alle Beteiligten, und es kam, wie es kommen musste.
    Die Situation eskalierte. Je heftiger Annemie um Aufmerksamkeit bettelte, um so kälter und härter wurde die Ablehnung des unfreiwilligen Publikums. Ich glaube, es enstand jenes rätselhafte Phänomen, das Cannetti in Masse und Macht als Entladung beschrieben hat. Es gab plötzlich eine unausgesprochene Übereinkunft, ein unumstößliches Gesetz zwischen uns, das uns glücklich machte und unsere Existenz für einen Moment mit tiefem Sinn füllte. Niemand würde diesem eingebildeten Neustar auch nur einen Augenblick lang zeigen, dass er irgenwie bekannt sei.
    Aber Annemie Fussbroich ließ nicht locker. In einer Choreographie der Verzweiflung rief sie nach unserer Liebe und vollführte eine Vorstellung, deren Peinlichkeit wir fünf endlos lange Stationen gemeinsam ungerührt ertragen sollten. Dann warf Sie einen letzten heischenden Blick in die Bahn und stürzte fluchtartig aus dem Wagen – neuen unbekannten Abenteuern entgegen, von denen die beliebte Doku-Soap dann vielleicht berichtet hat.
    Die Spannung in der Bahn wich einem warmen Gemeinschaftsgefühl, einer unverbindlichen Freundschaft, die so lange halten würde, wie wir unseren Kindern diese Geschichte erzählen. Das Geheimnis einer stillen Solidarität verband uns, der Stolz einer großen, gemeinsamen Tat. Wir hatten Annemie Fussbroich für kurze Zeit ihrer Bekanntheit beraubt und wieder hinab in die Niederungen des Normalseins gerissen. Wir hatten ihr gezeigt: Wer berühmt ist, bestimmen wir. Unsere Beachtung ist es, die Prominenz aus Euch macht. Letztlich seid Ihr unsere Geschöpfe und unserer Aufmerksamkeit hilflos ausgeliefert.
    Und so ließ ich mich beglückt in die Tiefen der unergründlichen Stadt rollen, viel zu lässig an eine der Haltestangen gelehnt.
    Geändert von DREA (12.10.2005 um 20:21 Uhr) Grund: Klarstellung des Urhebers

  2. #2
    Avatar von Klaus Caesar
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    Tante Alighieri, ich empfehle Ihnen, auf "bearbeiten/löschen" zu klicken und "hmm, denkdenk" zu löschen. Der übrige Text ist sehr ansehnlich, vielleicht eine Idee zu überambitioniert, was aber natürlich allemal besser ist als zu wurschtig.

  3. #3
    Mumbah Avatar von bastifantasti
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    Ich mag Annemie Fussbroich und finde den Text keineswegs zu überambitioniert.
    Was auch immer.

  4. #4
    psychohasi Avatar von Nicki Tuete
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    Ich kenne zwar Frau Fussbroich nicht, aber die Geschichte las sich gut.
    Pommes dazu?

  5. #5
    Member
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    Fehlt da nicht ein ar in Annemie? So hört es sich nach Blutarmut an.

  6. #6
    Sir Avatar von yellowshark
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    Ich mag Annemie auch und hätte sie vor allen Leuten um ein Autogramm gebeten.
    ys

  7. #7

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    "Annemie" (Betonung auf der ersten Silbe) ist die offizielle kölsche Kurzform von "Anna-Maria". Das ist schon so weit verbreitet das sogar die Träger dieses Namens sich meist selber nur noch als "Annemie" kennen. Bekannt geworden auch:

    "annemie, isch kann niemieh"
    "annemie, ming droppe"

    Besser gefällt mir noch "Lisbett" (Betonung auch auf der ersten Silbe) für "Elisabeth"
    "und alles nur, weil ich keine ausbildung habe"

  8. #8
    Avatar von MC Hausmacherleberwurscht
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    Et Lisbett!
    Sacht meine Mutti immer, wenn sie Queen Elisabeth I sieht. Beim Einkaufen, oder so.

  9. #9
    MCH, dann hat Ihre Familie aber gute Gene. Lisbett I. hat etwa 1550/1600 regiert. Der Hutständer, der im Moment das Sagen hat, ist Lisbett II.

  10. #10
    Moderator Avatar von Ruebenkraut
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    Tante Ali, ihr erstes posting ist ganz nett, aber ihr zweites posting hat mich gerade richtig erfreut.

  11. #11
    Member
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    Das ist wieder mal typisch deutsch.
    Wenn jemand einen saftig zu lesenden, sehr professionellen Text schreibt, ist man gleich "überambitioniert".

    Ich hab mich immer gefragt, was die Herrschaften Fußbroich geritten hat, als die sich auf dieses peinliche Unternehmen eingelassen haben.
    Das sie nicht die hellsten Welche sind, ist dabei nicht weiter schlimm. Später waren vergleichbare Persönlichkeiten bei "Vera am Mittag" und "Big Brother" zu sehen. Persönlichkeiten, denen nichts zu peinlich war.

    Ich fand den Text geil! :-)

  12. #12
    Member Avatar von Reno Schmittchen
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    Zerberuss01: für DAS haben Sie jetzt fast zwei Jahre gebraucht? Ein feiner Einstieg, vor allem der Smilie hat mir gut gefallen. Weiter so. Aber vielleicht wo anders.
    Wahn! Wahn! Uberall Wahn!

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