Es gibt immer neue Formen der Erniedrigung, von denen man in besseren Zeiten nicht den Hauch einer Ahnung hatte. Da sitze ich nun also auf meinem kantinenlosen Arbeitsplatz und der Arbeitgeber lässt in seiner grenzenlosen Güte und fürsorglichen Art fein nach Arbeitstagen abgezählte Restaurant-Gutschein-Kontigente auf mich hernieder rieseln.
Sodhexo-Pässe, 2,60 Euro pro Stück, zu verwenden wie Bargeld, für Mittagstisch bei Erna Sack oder Lebensmittel aus dem Supermarkt. Mittagstisch mag ich nicht, also Supermarkt. Der Walmart bei mir um die Ecke auf St. Pauli akzeptiert sie, natürlich.
Oft habe ich hier Sozialhilfe-Empfänger ihre Bezugsscheine an der Kasse aus zerfledderten Briefumschlägen nesteln sehen. Begleitet von den genervten, im besten Fall mitleidigen Blicken der Wartenden in der Schlange dahinter. Ich nehme mich da nicht aus.
Als ich mit meinem Einkaufswagen und mit über Monate gesammelten Sodhexo-Pässen im Wert von nahezu 200 Euro in den Walmart laufe, habe ich dieses Bild vor Augen. Erschreckt stelle ich fest, wie lange die Schlangen sind und male mir aus, wie ich gleich am vollgepackten Laufband meinen ganz persönlichen sozialen Absturz erleben werde. Restaurant-Pässe? Glaubt mir doch kein Mensch.
Schlechtgelaunte deutsche Seele. Hier mieft sie zwischen allen Gängen. Leute mit Toyota-Combis und Bild-Schnauze-voll-Steuern-runter-Aufklebern kaufen hier ein. Ihre Kinder heißen Jessica, Kathleen, Kevin oder Mike. Dazwischen entspannte Alkoholiker, mit ein wenig Scheiße in der Hose, die zwei Anläufe brauchen, ehe sie die 1,5 Liter-Flasche Sangria aus dem untersten Regalboden gestemmt bekommen. Als Ausnahmen bestätigen Up-to-Date-gekleidete, moderne Menschen aus den vielen, umliegenden Werbeagenturen die Regel.
Beim Brot stehe ich und bemitleide backmittelgetriebene Baguette-Stangen, die unknusprig abgeknickt wie erschlaffte Schwänze in einem Drahtkorb hängen. Da schlägt es mir wie eine Faust ins Gesicht. Scharf wie Katzenurin, mit einer chemischen Unternote, aufdringlicher, fieser Gestank. Herkunft klar: Jeder kennt diese Frauen, mit absurden Dauerwellen-Abenteuern auf dem Kopf, hochttoupierte Haar-Tsunamis, die nur durch unanständige Mengen Haarspray daran gehindert werden können, die hässlichen Gesichter ihrer Trägerinnen unter sich zu begraben, was aber besser für alle wäre.
Ich halte Ausschau und sehe die Tsunami auf mich zukommen, vom Vollkornbrot her. Feuerrot, wenigstens naturgelockt und lang bis auf den Arsch. Der ist bemerkenswert breit, gequetscht in eine Jeans. "Nee, Joshua, keine Reiskracker", sagt die vielleicht 1,60 Meter große Frau unter den Haaren zu ihrem kleinen Sohn. Was auch immer sie in diesen Mopp auf ihrem Kopf gesprüht hat, sie sollte verprügelt werden dafür. Ich halte die Luft an und im selben Moment denke ich, scheiße, die kennst du.
Komme aber nicht drauf, woher, versuche dem Gestank in die Yoghurt-Abteilung zu entkommen. Dort riecht es erholsam nach einer ausgelaufenen Milch, ich und meine Nase beruhigen sich. Vor einem Regal mit abgepacktem Lachs steht plötzlich Joshua wieder neben mir, ein nicht unangenehmes Kind, zugegeben, ganz niedlich. Erstaunlich, wo es doch in der Höhle eines tiefen Haarberges aufgewachsen ist. Zu lange war ich verharrt, das Haarspray-Parfum-Gemisch kroch wieder in meine Nase, Joshuas Mutti nahte und der Knirps frug: "Mammi, sind die alle in der Natur gefischt worden oder werden die gezüchtet und dann geschlachtet?" Mammi: "Alles gezüchtet, Schatz, Lachs aus der Natur ist arschenteuer." Arschenteuer, denke ich, arschenteuer!
Ich schaue den Haarberg an und habe kurz Augenkontakt. Junge Augen, die so unglaublich abgefuckt schauen, dass ich mich erschrecke. Ich sehe ihre Fingernägel, sie sind lang, zur Hälfte lila lackiert und mit Glitter beklebt, nuttig. Ja klar, es ist Iphigenie "Iffie" Zenker, die Lindenstraßenschlampe. Ich habe sie gehasst dort, sie, und diesen Frauenversteher Momo, mit seinen Rastas. (Ehemalige?) Protagonisten einer Serie, die eine deutsche Realität zeichnet, noch trostloser als Sodhexo-Pässe, geknickte Baguettes und Schnauze-voll-Aufkleber.
Die Zenker scheint dafür die gerechte Strafe ereilt zu haben. Die Jahre in der Lindenstraße scheinen aus der Tochter der Simoneit-Barum-Zirkusdynastie ein desillusioniertes Stilmonster gemacht zu haben. Die Chance des Schauspielerdaseins ist vielleicht die gelegentliche Flucht in schillernde Scheinwelten, entweder als Held, Bösewicht, Liebhaber oder Femme fatale. Rebecca Simoneit-Barum mimte jahrelang Lindenstraßengruselalltag und musste abends noch eben einkaufen bei Walmart. Ich könnte verstehen, wenn sie sich einen Bild-Schnauze-voll-Aufkleber auf ihren Toyota-Combi klebte.
Was ist dagegen schon ein peinlicher Einkauf mit Warengutscheinen? Selbstbewußt baue ich mich in der Schlange vor der Kasse auf, zähle für jeden sichtbar meine Restaurant-Schecks ab. Die Kassiererin stöhnt "Oh, Mann!" Ich sage: "Haben sie sich nicht so. Ich muss die Dinger loswerden." Kassiererin: "Sie sollen damit aber in ein Restaurant essen gehen und nicht einkaufen!" Stinkender Mann in der Schlange: "Genau. Arsch!"
Zitieren
Lesezeichen